DAS ARCHIV DES SCHREIBENS

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DIE WOHNUNG DER SCHRIFTSTELLERIN MARIANNE FRITZ ZEIGT SICH ALS KRAFT-ZENTRUM DER LITERARISCHEN PRODUKTION UND GIBT EINBLICK IN IHRE ARBEITSWEISE.

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DIE WOHNUNG DER SCHRIFTSTELLERIN MARIANNE FRITZ ZEIGT SICH ALS KRAFT-ZENTRUM DER LITERARISCHEN PRODUKTION UND GIBT EINBLICK IN IHRE ARBEITSWEISE.

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Man kommt in diese Wohnung im siebten Wiener Gemeindebezirk und betritt eine andere Welt. Kaum Zeichen alltäglichen Lebens sind hier zu finden. Versteckt in einem Durchgang ein kleiner Kleiderschrank, beim Eingang neben der schmalen Küche ein einsamer Garderobenständer. Ansonsten bilden die gesamten 75 Quadratmeter ein einziges Archiv des Schreibens, vollgepackt mit Aktenordner, Büchern, Registraturen, Verzeichnissen, frühen und späten Fassungen der literarischen Werke, Materialund Quellensammlungen. Alles ist fein säuberlich geordnet und mit Orientierungssystemen versehen: Beschriftungen, die manchmal geheimnisvoll wirken, die Rücken der Ordner mit unterschiedlichen Farben markiert. Da und dort finden sich Zettelkästen in alphabetischer Ordnung und mit aufgesteckten vielfarbigen Reitern mit tausenden Einträgen zu Personen und Orten.

Zettelkästen und Stempel

In einem der Räume steht auf dem Boden eine Truhe zur Verwahrung aufgerollter Großformate, darunter zahlreiche detaillierte Pläne der Kriegsfestung Przemysl aus den Jahren 1914/15. Auf einem der Kästen im Nachbarzimmer ein dreidimensionales Modell des Dorfes Gnom. Im eigentlichen Arbeitszimmer daneben ein Stehpult mit Büromaterial, darunter auf einem kleinen Halter mehrere Stempel mit vorgeprägtem Aufdruck: "Erledigt". Neben der riesigen Tischplatte, die dazu gedient hat, um die Pläne auflegen zu können, findet sich der Ort, an dem tatsächlich geschrieben wurde. Eine Kugelkopfmaschine steht da auf einem niedrigen Podest, darüber von der Decke herabbaumelnd eine gigantische Glühbirne, schon eher ein Scheinwerfer, mit mehreren hundert Watt.

Im Nebenraum findet sich ein "Gestell", in das die Autorin eingespannt war, wenn sie schrieb und das es ihr erlaubte, sich Quellen oder frühere Fassungen, auf denen sie aufbaute, direkt vor Augen zu halten. Die Sitzstellung vor der Maschine war eher ein Kauern und Knien. Tage und Nächte hat Marianne Fritz, die wohl radikalste Autorin der deutschsprachigen Literatur, vor der Maschine verbracht, um ihre immer ausgefeilter werdenden Typoskripte zu fertigen. Wahre Kunstwerke der Typographie sind auf diese Weise entstanden, an denen jedes Detail perfekt sein musste und zu deren Perfektionierung es immer wieder neue Anläufe brauchte. Mit eingearbeiteten Graphiken und Plänen sind die Seiten durchsetzt und die lineare Schrift löst sich in vielfacher Weise auf. Der Suhrkamp-Verlag hat das Typoskript, jede Seite ein Meisterwerk, unter dem Werktitel "Naturgemäß I" (1996) und "Naturgemäß II" (1998) als Faksimile auf den literarischen Markt gebracht. Bücher waren das aber eigentlich keine mehr, denn es wurde in ihnen alles aufgeboten, was der Kugelkopf hergab.

Störung untersagt

Otto Dünser, der langjährige Lebensgefährte der Autorin, der auch ihr Sekretär und Archivar war und für sie Quellen recherchierte, hatte sich, während Marianne Fritz sich in diesen intensiven Schreibphasen befand, auf Zehenspitzen durch die Wohnung zu bewegen. Jede Störung der Arbeit war untersagt. Wie lange solche Phasen denn gedauert hätten, wurde er einmal gefragt, mehrere Wochen oder Monate? Nein, oft ganze Jahre!

Dünser hat die Wohnung in dem Zustand belassen, in dem sie sich befand, als Marianne Fritz im Jahr 2007 verstarb. Die letzten Jahre hat sich die Autorin mit ihrer Krankheit, einer seltenen Variante der Leukämie, in einer ähnlich intensiven Weise

auseinandergesetzt wie mit ihrem Schreiben. Dennoch war es ihr möglich, ihr literarisches Lebenswerk wenigstens zu einem vorläufigen Abschluss zu bringen. Unter dem Titel "Naturgemäß III" hat sie ihm einen fragmentarischen Schluss gegeben. Die Wiener Thea4 tergruppe "fritzpunkt", die sich um die Verbreitung des Fritzschen Gesamtwerkes in den letzten Jahren in besonderer Weise verdient gemacht hat, hat den Text frei zugänglich ins Internet gestellt (www.mariannefritz.at).

Seit dem Jahr 1979 hat Marianne Fritz in der Wohnung gelebt, in der bis heute so stark spürbar ist, welch ein Kraftzentrum der literarischen Produktion sie einst war. Fast all ihre Bücher hat die Autorin hier geschrieben. Dabei musste die Stätte, an der sie schrieb, "sauber" auch in dem Sinn sein, selbst niemals arisiertes Eigentum gewesen zu sein. Das wurde vor dem Einzug überprüft und der Ort für geeignet befunden. Auch ansonsten bedurfte es gewisser Voraussetzungen für das eigene Schreiben: "Giftliteratur" aus der Zeit des Nationalsozialismus, die Marianne Fritz als Quellenmaterial brauchte, wurden in eigenen Geheimfächern hinter den Bücherregalen versteckt, denn zu sehen brauchte man diese Dinge ja nicht unbedingt jederzeit. So war es auch ein Ort der Unbestechlichkeit, an dem die Autorin ihr literarisches Großprojekt betrieb.

Alle Bücher von Marianne Fritz fügen sich einem Werkzusammenhang, der "Die Festung" heißt. Thematisch hat sich die Autorin dabei zusehends in die Geschichte Österreichs zurückbewegt, und formal hat es notwendige Verkomplizierungen gegeben. Ihr erstes Buch, der vergleichsweise schmale Band "Die Schwerkraft der Verhältnisse", der im Jahr 1978 noch anderswo geschrieben wurde, hatte die 1960er Jahre zum Inhalt. Eine Figur namens Berta Schrei wird hier zwischen zwei idealen Werteträgern der Aufbaugeneration, dem Chauffeur Wilhelm und der Putzfrau Wilhelmine bis hin zum Wahnsinn und zum Kindesmord aufgerieben.

Brutale Dorfwelt

Der Roman "Das Kind der Gewalt und die Sterne der Romani" (1980) führt, fast ein halbes Jahrhundert früher angesiedelt und formal bereits wesentlich aufwendiger gestaltet, eine brutale Dorfwelt vor. In der Nacht des 22.9.1921 hat der betrunkene Großbauer Kaspar Zweifel, ein Landmagnat alten Stils, im Schweinestall seines Hofes eine Romani vergewaltigt. Neun Monate später liegt das Kind auf seiner Schwelle und bringt als sichtbares Zeichen der Gewalttat die Verhältnisse in dem Dorf Gnom durcheinander, was letztlich aber nur zu einem Ansteigen der Repression führt.

Einen viel größeren sozialen und topographischen Rahmen steckte Marianne Fritz dann mit ihrem 3400-Seiten-Roman "Dessen Sprache du nicht verstehst" (1985/86) ab. Die vielschichtige Handlung ist um die Arbeiterfamilie Null gruppiert und spielt knapp vor bzw. nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Die Familie Null lebt in einem Dorf namens Nirgendwo und wird von einer Folge von Katastrophen heimgesucht: Der Vater Josef war um die Jahrhundertwende bei Arbeiterunruhen getötet worden, ein ähnliches Schicksal erleidet sein gleichnamiger Sohn. Einer der Null-Brüder, Franz, fristet in einem Keller in der Hauptstadt Donaublau ein elendes Dasein als Lumpenproletarier; Matthias Null bringt sich um, nachdem seine Frau gestorben ist; Johannes Null desertiert von der Kriegsfront. Von seiner Flucht quer durch das Land ist gleich zu Beginn des Romans zu lesen, am Ende des Buches wird der wichtige Erzählstrang nochmals aufgenommen: Der homosexuelle Priester Pepi Fröschl, eine von Selbst-und Gotteszweifel geplagte Figur, verrät den Freund, woraufhin Johannes von Sicherheitsmännern brutal hingerichtet wird.

Ein gigantisches Werk

Mit dem Werkkomplex "Naturgemäß" finden der Gang zurück in die Geschichte und die Verkomplizierung der Form ihre Höhepunkte. Der Weg zurück in die Geschichte endet hier im Jahr 1914. Die Autorin friert die historische Schicht in "Naturgemäß" förmlich ein, verabschiedet sich dabei aber auch von herkömmlichen Konzepten des geschichtlichen Fortschreitens. In die Geschichte zurückzugehen, heißt ja nichts anderes, als anzunehmen, dass sich die Geschichte ihrerseits irgendwie nach vorwärts bewegt: Von dieser Denkungsart löst sich "Naturgemäß" emphatisch und spektakulär. Wirklichkeit und Geschichte werden hier als polyphones Arrangement betrachtet, in dem Zeit-und Raumachsen miteinander alogische Verflechtungen und Verzahnungen eingehen. Deshalb musste es dann auch diese Form der graphischen Umsetzung sein.

Auf ihr eigentliches Thema, den Nationalsozialismus und die Schoa, kommt Marianne Fritz erst in "Naturgemäß III" zu sprechen. Alle ihre bisherigen Bücher ließen sich von da aus als eine Art Vorbereitung für die entscheidende Frage verstehen: Wie vermag jene einzigartige Menschheitskatastrophe des 20. Jahrhunderts von einem einzelnen menschlichen Gehirn erfasst werden? Das Gesamtwerk von Marianne Fritz ist wohl die komplexeste und eindringlichste Antwort, die die Literatur angesichts dieser Frage bislang hervorgebracht hat.

Von dem, was man den literarischen Betrieb nennt, hat sich Marianne Fritz in Beantwortung dieser Frage im Laufe der Zeit vollkommen abgewandt. Sie ließ sich nicht mehr fotografieren, hielt keine Lesungen, empfing keine Journalisten, trat nicht mehr auf.

An der Reduktion der Komplexität ihres Werkes wollte die Autorin selbst nicht beteiligt sein. Vielmehr sollte das Werk in seiner Gesamtheit für sich selbst sprechen. Innerhalb der medialen Vermittlungsstrategien von Literatur ist eine solche Position heute ein Unding: Autoren, die nicht mitspielen und sich nicht sehen lassen, werden nicht wahrgenommen.

Die Absenz von Marianne Fritz aber ist ihrem Werk geschuldet. In ihrer Wohnung fand sie über Jahrzehnte hinweg den stillen Ort, den es gebraucht hat, um bedingungslos zu schreiben. Wenn man den Raum heute betritt, findet man sich in ihm auf ein gigantisches Werk zurückgeworfen. Nicht nur, weil in dem Ensemble jetzt die Autorin fehlt, sondern vor allem auch, weil in diesem Raum und seiner langen Geschichte alles relativiert ist, was heute scheinbar so selbstverständlich zum literarischen Schreiben dazugehört. Marianne Fritz hat sich erfolgreich geweigert, als Person an der Vermarktung ihres Werkes mitbeteiligt zu sein. Das Archiv, das sie hinterlassen hat, ist wahrscheinlich ein letztes Archiv des Schreibens.

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