"Mit verzweifeltem Blick auf die Epoche"

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Vor 125 Jahren, am 15. Juli 1892 wurde er in Berlin-Charlottenburg geboren, am 26. September 1940 nahm sich der Philosoph Walter Benjamin, als Flüchtling von den spanischen Behörden zurückgewiesen, das Leben. Sein Deutschland war zu einem Monstrum geworden.

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Vor 125 Jahren, am 15. Juli 1892 wurde er in Berlin-Charlottenburg geboren, am 26. September 1940 nahm sich der Philosoph Walter Benjamin, als Flüchtling von den spanischen Behörden zurückgewiesen, das Leben. Sein Deutschland war zu einem Monstrum geworden.

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Der Tragik galt sein Forscherinteresse, und Tragik holte ihn mit grausamer Wucht an seinem frühen Lebensende ein. Im spanischen Grenzort Portbou strandete im September 1940 die Flüchtlingsgruppe, der sich Walter Benjamin angeschlossen hatte, um den Nazi-Häschern zu entkommen. Die Gruppe wollte zu Fuß über die Pyrenäen. Herzkrank, durch die Anstrengungen völlig erschöpft, gab sich der 48 Jahre alte Gelehrte, als er von den spanischen Behörden zurückgewiesen wurde, selber auf und nahm eine hohe Dosis Morphium. Er starb am Abend des 26. September allein in einem Hotelzimmer.

Die einprägsamste rhetorische Figur, die von Walter Benjamin überliefert ist, zeigt den "Engel der Geschichte":"Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert." Walter Benjamins Deutung von Klees Engel-Bild ist zur Signatur des Zeitalters geworden, für das sein Leben und sein gewaltsamer Tod als Opfer des NS-Rassenwahns emblematisch Zeugnis ablegt.

Stürmisch wiederentdeckt

Dreißig Jahre blieb sein heterogenes Werk nach seinem Tod weitgehend unbekannt, bis die 68er-Generation den Verfasser stürmisch wiederentdeckte und sich an seinem klassenkämpferischen Spätwerk ergötzte. Den messianisch inspirierten Metaphysiker und Sinnsucher ließen sie rechts liegen. Seine Freunde Theodor W. Adorno und Gershom Scholem verbreiteten Benjamins Nachlass und sicherten so seinen Einfluss als einer der maßgeblichen geistigen Anreger des 20. Jahrhunderts.

Der 1892 in Berlin geborene Sohn eines jüdischen Kunsthändlers war in seiner Jugend stark von der naturnahen "Wandervogel"-Bewegung geprägt worden. Der Reformpädagoge Gustav Wyneken, der sein Lehrer wurde, stand für freie Lebensführung, Koedukation, Ganzheitsdenken, Abkehr von Leibfeindlichkeit und autoritärem Erziehungsstil. "Das Wesentliche", schrieb Benjamin später in seiner autobiografischen 'Berliner Chronik',"liegt überhaupt nicht auf pädagogischem Gebiet, ein philosophischer, metaphysischer Gedanke ist ihr Mittelpunkt."

Im Ersten Weltkrieg wandte sich Benjamin enttäuscht von Wyneken ab, der den Krieg begeistert begrüßt hatte. 1917 war Benjamin, auch um nicht kriegsverpflichtet zu werden, in die ruhige Schweiz ausgewichen, wo er 1919 in Bern mit seiner Dissertation über die Kunstkritik in der Romantik summa cum laude promoviert wurde. Er hatte 1917 Dora Kellner geheiratet, 1918 wurde der Sohn Stefan geboren.

In der Schweiz lernte Benjamin die Dadaisten kennen und ließ sich durch deren spontane Dekonstruktionskunst beeindrucken. Umso heftiger stürmten die nächsten Jahre, als er 1919 nach Berlin zurückkehrte, auf ihn ein. Aufgewühlt und zerrissen "von der Parteien Hader" waren die Zwanzigerjahre in Deutschland, als sich Walter Benjamin dort als Kritiker und Publizist einzurichten suchte.

Habilitationsversuch und Krise

An der Universität Frankfurt am Main versuchte Benjamin, sich zu habilitieren. Seine umfassende Arbeit über den "Ursprung des deutschen Trauerspiels" - eines seiner Hauptwerke - fand jedoch wegen seiner inkommensurablen Form beim akademischen Senat wenig Anklang, was den Verfasser in eine Krise stürzte. Um einer offiziellen Ablehnung zuvorzukommen, zog er sein Habilitationsgesuch zurück.

In Paris, wohin er vorübergehend seinem Freund Franz Hessel gefolgt war, wurde er unter dessen literarischer Anleitung zum Flaneur. In seinem "Passagenwerk" entführt er den Leser wie ein urbaner Cicerone entlang der Wunderwelt der Schaufenster und Auslagen, und die Wunder sind all die bereitliegenden Waren. Benjamin beschreibt die Faszination, die ihn erfasste: "Die Passagen, eine neuere Erfindung des industriellen Luxus, sind glasgedeckte, marmorgetäfelte Gänge durch ganze Häusermassen, deren Besitzer sich zu solchen Spekulationen vereinigt haben. Zu beiden Seiten dieser Gänge, die ihr Licht von oben erhalten, laufen die elegantesten Warenläden hin, so dass eine solche Passage eine Stadt, eine Welt im Kleinen ist, in der der Kauflustige alles finden wird, dessen er benötigt. Sie sind bei plötzlichen Regengüssen der Zufluchtsort aller Überraschten, denen sie eine gesicherte, wenn auch beengte Promenade gewähren, bei der die Verkäufer auch ihren Vorteil finden."

Biograf Lorenz Jäger, der in der "träuerischen Gebärde" mit Recht einen "Schlüssel für Benjamins Werk" sieht, hält fest: "Benjamin, der Kaufmannssohn, erfährt den Gesamtprozess des Handels wie einen Traum. Oder wie eine Dichtung. Vom 'grand poème de l'étalage' hatte Balzac gesprochen (Benjamin zitiert ihn), also fast von einem Epos, dessen Held die im Schaufenster präsentierte Ware ist." Indes, kaum kann Benjamins eigenes Flanieren, das passionierte Herumirren durch die Passagen und Boulevards von Paris, als etwas anderes gedeutet werden denn als die rastlose Suche eines Einsamen nach einem Zuhause. In den Dreißigerjahren freilich, durchtränkt von marxistischen Lehrsätzen, sieht Benjamin im Flaneur nur mehr den "in das Reich des Konsumenten ausgeschickten Kundschafter des Kapitalisten." Er begann, die Warenwelt derart zu dämonisieren, dass Adorno ihn als "wahnsinnig gewordenen Wandervogel" bezeichnete.

Zum Kommunismus hatte ihn seine aus Lettland stammende bolschewistische Freundin Asja Lacis geführt, die er in Capri kennengelernt hatte und der er nach Moskau gefolgt war, nur um sie dort, schwer enttäuscht, wieder verlassen zu müssen. Von Brecht, mit dem er sich anfreundete, übernahm er viel von dessen doktrinärem Marxismus. Befremdet bemerkte er Brechts totalitäre Züge im Gespräch, die sich in Gewaltvisionen von Rollkommandos und Massenterror zeigten.

Die Arbeit am Passagen-Werk führte Benjamin Ende der Zwanzigerjahre auch zur Figur des Passanten und damit zeitbedingt zur Auseinandersetzung mit dem Massenmenschen. Benjamin begegnete ihm auf den Berliner Straßen vermehrt bei politischen Kundgebungen sowohl linker wie rechter extremistischer Versammlungen. Den Hakenkreuzlern und den Kommunisten war nach einem Wort des SPD-Politikers Kurt Schumacher von 1930 eines gemeinsam: "der Hass gegen die Demokratie und die Vorliebe für Gewalt".

Exil in Paris

Nach der Machtübernahme Hitlers 1933 ging Benjamin nach Paris ins Exil. Er radikalisierte sich angesichts der politischen Lage. Der Angriff galt vornehmlich den Sozialdemokraten, die einem evolutionären Fortschrittsbegriff anhängten, statt gemäß dem dialektischen Marxismus den revolutionären Umsturz der Verhältnisse als einzigen gangbaren Weg einzuschlagen.

In der epochalen Schrift "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" (1935) beschrieb Benjamin den Verlust der Aura, die mit der Einmaligkeit des Kunstwerks verbunden ist. Im Gegensatz zu Adorno, der den "Fetischcharakter der Massenkultur" kritisch bewertete, strich Benjamin die Vorteile einer veränderten Rezeption, eines massenhaften Zugangs zu den reproduzierten Artefakten heraus.

Der gewissenhafte Biograf Lorenz Jäger fördert eine beeindruckende Summe von Einzelaspekten, Widersprüchen und esoterischen Vorlieben zutage. Die umfassende geistige Statur des Porträtierten gerät bei dieser Naheinstellung indes allmählich aus dem Bild. Anderseits zählt Jürgen Habermas Benjamin "zu jenen unübersichtlichen Autoren, deren Werk auf eine disparate Wirkungsgeschichte angelegt ist" und die deshalb nicht "unbillige Konsistenzanforderungen" erfüllen könnten.

Die Gelassenheit später Jahre war Walter Benjamin nicht vergönnt. Stéphane Hessel, der Sohn seines Freundes Franz, berichtete vom letzten Gespräch in Marseille: "Benjamin warf einen verzweifelten Blick auf die Epoche. Sein Deutschland - denn er empfand sich so unverbrüchlich als deutsch - war zu einem Monstrum geworden, das umso grauenerregender war, je mehr es ein fleißiges und diszipliniertes Volk mobilisierte."

Sitzend, den Rücken gebeugt, den Kopf tief in die Hand geschmiegt wie Dürers Melancholiker -so ist Benjamins Lieblingshaltung überliefert. Sie zeigt den Schwermütigen, der in sein Trauerspielbuch eine "Lehre des Saturn" eingefügt hat, des "Gottes der Extreme". Das Bild aus der Astrologie des Mittelalters zeigt das Spannungsfeld auf, in das Leben und Werk dieses Denkers der Extreme eingefügt ist: Marxismus und Melancholie. Materialismus und Metaphysik. Letztlich: Wehmut und Sinnlichkeit.

Walter Benjamin

Das Leben eines Unvollendeten

Von Lorenz Jäger

Rowohlt 2017

384 S., geb., € 27,80

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