Erdogans Türkei - ein Abschied

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Über das umstrittene türkische Verfassungsreferendum, das ein mächtiges Präsidialsystem begründen und das Parlament deutlich schwächen würde.

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Über das umstrittene türkische Verfassungsreferendum, das ein mächtiges Präsidialsystem begründen und das Parlament deutlich schwächen würde.

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Wo endet Europa? Im Westen am Atlantik. Im Süden am Mittelmeer. Im Norden am Eismeer. Und im Osten? Da bleibt alles im Ungefähren: Einst galt der Fluss Rion (im Kaukasus) als Grenze zu Asien; dann der Don (Südwest-Russland), seither das Ural-Gebirge. Recht willkürlich, denn von Irland bis Malaysia schwimmen wir alle auf derselben tektonischen Platte. Also empfahl ein Literat jüngst, die Grenzen mit der Seele zu erahnen: "Europa endet dort, wo die historischen Voraussetzungen für ein europäisches Wir-Gefühl enden." Würde das gelten, dann gehörten Jerusalem, Byzanz (Istanbul) und Moskau ebenso zu Europa wie Athen und Rom.

Also bleibt gültig, was uns schon Herodot vor 2500 Jahren im Blick auf unseren Kontinent hinterlassen hat: "Ich kann die Urheber der Abgrenzungen nicht in Erfahrung bringen." Tatsächlich: Am Beispiel Türkei erleben wir soeben, wie kurzatmig jede Suche nach den "Außenwänden" des "europäischen Hauses" ist. Denn der Machtrausch Erdogans beutelt ganz Europa - egal, ob die Türkei nun "drinnen" oder "draußen" liegt.

Das hat mit Millionen türkischstämmiger Arbeitsmigranten samt Nachkommen zu tun, die irgendwann nach Westeuropa gekommen sind. Auch mit Millionen Nahost-Flüchtlingen, denen die Türkei - im Pakt mit der EU - den Durchmarsch in Europas Wohlstandszonen verweigert (und uns dafür unsere Erpressbarkeit spüren lässt). Und mit der Verlogenheit der Union, den Türken eine Beitrittsperspektive vorzugaukeln, obwohl letztlich niemand bereit war, den Preis dafür zu zahlen:

  • eine brisante EU-Außengrenze ganz nahe an den großen Konfliktzonen unserer Zeit;
  • die totale Überforderung der Union bei einem Bevölkerungszuwachs von knapp 80 Millionen;
  • und ein drohender Zusammenprall von Kulturen und Werten.

Die Beitrittslüge der EU

Die Türken haben diese Beitrittslüge längst durchschaut - Erdogans Aufstieg ist auch eine Folge enttäuschter Europa-Sehnsucht.

Dabei ist offenkundig, dass ein "Partner Türkei" langfristig für Europa unverzichtbar ist: als Transitland und Zugang zu den Energie-Reserven in Mittelost und Zentralasien. Als starker militärischer Partner. Als wachsende Wirtschaftsmacht -und als Konsummarkt.

Die Geschichte lehrt uns zudem, dass Europas Frieden nur gesichert ist, wenn es - neben innerem Zusammenhalt - auch stabile Nachbarschaften an seiner Peripherie zustande bringt. Das ist bisher nicht ansatzweise gelungen.

Stattdessen spüren wir jetzt, wie schnell und bedrohlich sich verletzter Stolz, uralte Feindbilder und politische Hybris verdichten können. Und wie dünn die emotionalen Membrane sind - auf allen Seiten.

Jahrzehntelang habe ich davon geträumt, gerade den Türken würde der Beweis gelingen, dass Islam, Demokratie und Modernität zusammengehen können. Welch eine heilsame Erfahrung wäre das gewesen. Jetzt heißt es: Aufwachen!

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