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Die bedeutungsschwerste Aufgabe der österreichischen Landwirtschaft

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Dunkle Mächte scheinen sich gegen den europäischen Kontinent verschworen zu halben. Die Gefahr einer Hungersnot, die im Herbst vorigen Jahres wie eine finstere “Wolke weithin über dem Festland hing, konnte dank der großzügigen Hilfe der Alliierten noch zur rechten Zeit abgewendet werden. Aber man ist noch nicht über den Berg. Die “Weltgetreideversorgung hat in einem überraschend kurzen Zeitraum eine wesentliche Verschlechterung erfahren mit dem Ergebnis, daß heute Europa einer Ernährungskrise gegenübersteht, wie sie nach der Meinung angelsächsischer Fachleute seit Kriegsbeginn nicht mehr vorhanden war.

Den unmittelbaren Anlaß au dieser ernsten Entwicklung hat der enttäuschende Ernteausfall in den Weizenproduktions-ländern der südlichen Halbkugel, das ist vornehmlich Argentinien und Australien, gegeben. Beide Gebiete spielen im Rahmen der “Weltgetreideversorgung stets eine wichtige Rolle, auch deshalb, weil ihre Ernte in die Monate Dezember und Jänner fällt und daher in den europäischen Konsum-zentren das Getreide vom La PI ata und von Australien zu einem Zeitpunkte einlangt, da die heimischen Lager bereits einer Auffüllung bedürfen. Für die beiden Produktionsgebiete sind außerordentliche Schwankungen in den Regenfällen und damit auch im Ernteertrag charakteristisch; in Australien noch weit mehr als in Argentinien.

Argentinien hatte in der Zeit vom 1930 bis 1934 Durchschnittsernten tob 6,6 3 Millionen Tonnen “Weizen. 1939 ging jedoch der Ernteertrag, ohne daß eine wesentliche Ernschrärtkung der Anbaufläche Platz gegriffen hat, auf 3,56 Millionen Tonnen zurück, um im darauffolgenden Jahr wieder auf 8,15 Millionen Tonnen hinaufzuschnellen. In der Folgezeit wurde allerdings der Anbau von “Weizen stark gedrosselt, da infolge des Krieges Absatzschwierigkeiten entstanden and umfangreiche alte Bestände — vermischt mk Masut — sogar verfeuert wenden

Australien konnte im Zeitraum von 1930 bis 1934 durchschnittlich 5,05 Millionen Tonnen “Weizen einheimsen. In der Campagne 1940/41, wo es wenig Regen gab, ging jedoch der Ertrag auf 2,23 Millionen Tonnen zurück. In der Campagne 1944/45 hatte Argentinien eine mäßige, Australien jedoch eine ganz besonders schlechte Ernte. “Wie sich das auswirkte, zeigt der mir vorliegende Geschäftsbericht einer großen Landgesellschaft, der Shottish Australian Com-pagnie. Darnach hat dieses Unternehmen

1944/45 nur 8000 Bushel (je 27 Kilogramm) Weizen geerntet gegen rund 8 0.0 00 Bushel im vorhergegangenen “Wirtschaftsjahr. Die Haferernte brachte sogar nur 572 Bushel gegen 10.000 ein Jahr vorher.

In der jetzt abgeschlossenen Campagne blieb die Ernte Australiens wiederum weit unter dem Durchschnitt. Zugleich hatte in der letzten Campagne die Weizenernte Argentinien unter der Dürre derart zu leiden, daß der Oberschuß nur zur Versorgung der Nachbarländer hinreicht. Von einem Export nach Europa, mit dem man allgemein gerechnet hatte, wird keine Rede sein können.

Das Ergebnis davon ist, daß die Annahmen, die im Zusammenhang mit der europäischen Nahrungsmittelversorgung vor etlichen Monaten noch als gültig angesehen wunden, tatsächlich keine Geltung mehr besitzen.

Aus einer Rede, die der amerikanische Unterstaatssekretär Dean Acheson im Rundfunk gehalten hat, geht hervor, daß bis zum Juli insgesamt 17 Millionen Tonnen Weizen nach Europa geliefert werden sollten. Davon muß jetzt ein Abstrich in Höhe von 5 Millionen Tonnen gemacht werden, das heißt die europäischen Zuschußgebiete werden also etwa 12 Millionen Tonnen erhalten, wovon allein 6 Millionen Tonnen auf Lieferungen aas den USA. ent-Ulen. Der Rest wird in Kanada zusammengeholt werden müssen. Überdies hat sich Australien bereit erklärt, alles, was an verfügbarem Weizen vorhanden ist, ehestens zur Verschiffung zu bringen. Leider ist zu befürchten, daß selbst diese Rechnung nicht ganz stimmt, und zwar deshalb, weil die indische Regierung einen Zuschußbedarf von mindestens einer Million Tonnen angekündigt hat.

Nun aber ist der Ernährungsstand in vielen Gebieten Europas derart, daß er eine weitere Verschlechterung ohne die Gefahr von Epidemien und abnorm hoher Mortalität nicht mehr verträgt. Die Ziffern, die Präsident Truman in dem Zusammenhang genannt hat, sind erschütternd. Sie zeigen die furchtbaren Folgen des zweiten Weltkrieges erst in ihrem ganzen Ausmaß. Deshalb hat auch der Chef der amerikanischen Bundesregierung ein Neunpunkteprogramm aufgestellt, das eine Einschränkung des heimischen Verbrauches in den USA vorsieht, die eine vermehrteLief erfähigkeit ermöglichen soll. Ähnliches geschieht in England, wo die Verbraucher ohnehin nicht auf Rosen gebettet sind und daher die Konsumdrosselung noch stärker fühlbar sein wird als in den USA. Diese Pläne sind großherzig und Anrufe an den Heroismus der angelsächsischen Volker.

Nicht nur in Österreich wird man sich' jetzt fragen, warum die großen überseeischen Weizenproduzenten der nördlichen Halbkugel nich't in der tage sind, 3as Ee-zeichnete Manko von fünf Millionen Tonne auch ohne Einschränkung des eigenen Verbrauches zu decken. Der Europäer sieht, wenn er diese Frage stellt, die endlose Prärie mit ihren Weizenfeldern und ihren riesigen Mähdreschern vor sich, wo wenige Menschen unfaßbar große Flächen abzuernten vermögen. In Kinos und auf Wandzeitungen sah er noch die turmhohen Getreidesilos etwa von Buffalo. Von all dem hat er die Vorstellung einer überdimensionalen Produktionskraft, die alle Bedürfnisse spielend zu befriedigen vermöchte. Die Wirklichkeit sieht aber anders aus. Gwiß ist die Weizenproduktion in USA. und Kanada mit durchschnittlich 35 und maximal 42 Millionen Tonnen außerordentlich hoch; aber sie bleibt hinter der europäischen (Europa ohne Rußland!) mit einem Durchschnitt von 5 0,7 Millionen noch immer weit zurück. Es ist nun allerdings richtig, daß in Nordamerika weniger Menschen als in Europa zu ernähren sind. Aber der Lebensstandard ist dort höher als bei uns und überdies darf man den Weizen allein nicht als Maßstab für die Produktionskraft der Landwirtschaft hüben und drüben vom Ozean ansehen. Bei uns stellt der Roggen einen fast ebenso wichtigen Ernäh-ruhgsfaktor dar wie der Weizen; nicht jedoch in der Übersee. In den USA. und in Kanada beträgt die durchschnittliche Roggenernte nur etwa eine Million Tonnen gegen fast 25 Millionen Tonnen in Europa, wobei Rußland nicht berücksichtigt ist. Weizen und Roggen zusammengerechnet, ergeben somit in Europa etwa 75 Millionen Tonnen gegen 36 Millionen Tonnen in USA. und Kanada. Das Schwergewicht der Weizen- und Roggenerzeugung liegt somit durchaus bei Europa. Wenn trotzdem in normalen Zeiten eine jährliche Einfuhr von Weizen — der Roggen zählte kaum — in der Höhe von 12 bis 17 Millionen Tonnen festzustellen war, dann nur deshalb, weil England hieran allein mit sechs bis sieben Millionen Tonnen beteiligt war. Bei den übrigen Staaten kam nur die Deckung des sogenannten Spitzenbedarfes in Frage.

Von dieser Tatsache ausgehend, kann man nun erst den furchtbaren Produktionjausfall ermessen, den der zweite Weltkrieg innerhalb der europäischen Landwirtschaft verursacht hat. Eine Zäsur haben wir bereits einmal erlebt, und zwar in den Jahren nach 1918, damals wurden die Folgen einer mangelhaften Felderpflege noch verschärft durch den Wegfall der Getreidezufuhren aus Südrußland und durch die Agrarreform in Süd-Ort-Europa. Diesmal reichen die Kriegswirkungen im landwirtschaftlichen Sektor Europas noch viel tiefer. Die Tatsache, daß das Schwergewicht der GetrejaeproduStion nach“ wie tm bei Europa und nicht in Obersee liegt, macht sich jetzt in ihrer ganzen Wucht fühlbar. Will es dann noch ein böses Schicksal, daß in einzelnen Gebieten der Ubersee die Ernte durch Dürren zugrunde geht, dann ist es Zeit, das Alarmsignal zu geben. Dies ist jetzt auch von Washington und London aus geschehen. Gleichzeitig wird aber in der britischen Presse die Frage aufgeworfen, ob das von Großbritannien freiwillig gebrachte Opfer mit entsprechenden Maßnahmen der anderen Lebensmittel importierenden Linder parallel lauft.

Diese Frage richtet sich irgendwie auch an uns. ö s t e r-reich ist bekanntlich in stärkstem Maße auf die Lebensmittelhilfe der Alliierten angewiesen. Bei dem niedrigen Stand der Rationen bleibt nun eine nennenswerte Kürzung außerhalb jeder Diskussion. Um so größer ist die Notwendigkeit, von der Produktionsseite her alles zu unternehmen, damit wir aus dem Status von heute, der mit einer ständigen Unterernährung für die Städte und Industrieorte identisch ist, herauskommen. Wenn es bisher noch Optimisten unter uns gegeben haben sollte, die auf eine Erhöhung der Alliiertenzufuhren hofften, so wissen sie jetzt, woran wir alle in Wirklichkeit sind. Eine Besserung kann nur von unserer eigenen Landwirtschaft kommen und nur allmählich. Dazu bedarf es des guten Willens und der ganzen Arbeitskraft des Bauernstandes.

Im Augenblick ruht noch die Arbeit auf den Feldern; in wenigen Wochen wird sie jedoch ihren Anfang nehmen. Bis dahin muß alles vorbereitet sein. Mancherorts wird das Saatgut knapp sein. Da wird die Landwirtschaftskammer Vorsorgen. Überall ruft man nach Kunstdünger und Zugtieren, um die Mängel zu beheben, die der Krieg auch in den andern Ländern hervorrief. Auch hier wird gute Organisation und persönliche Tüchtigkeit viele Schwierigkeiten überwinden können. Das Wohl und Wehe des österreichischen Volkes wird in der kommenden Zeit in stärkstem Umfang bestimmt sein von der Entwicklung unserer agrarischen Eigenproduktion.

Jetzt kommt an unseren Bauernstand die bedeutungsschwerste Aufgabe heran, die ihm je gestellt war.

Zu allen anderen Zeiten konnte man in Notzeiten durch Einkäufe aus dem Ausland sich helfen. Jetzt reicht diese Hilfe nicht.

Die Römer hatten ein Sprichwort: Res ad triarios venit! „Jetzt müssen die Triarier heraus“, die Garde der Kampferprobtesten, die, wenn es kritisch wird, zum Einsatz vorrückt. — Das gilt auch nun. Jetzt muß der österreichische Bauer heraus an die neue Front — gegen den Hunger. Er war immer, wenn es ganz schlimm wurde, der Triarier Österreichs.

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