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Die Entscheidung fällt in diesem Jahrzehnt

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Die Entwicklungsstrategie der Dritten Welt im achten Jahrzehnt wird zum zentralen Problem der internationalen Wirtschaftspolitik werden. Umfaßt werden von dieser Strategie alle jene Staaten, die weder zu den westlichen Industrienationen noch zu den Ostblockländern gezählt werden können, das heißt die Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. Dazu ist es notwendig, daß sich die Industrienationen über dieses Problem klar werden: zur Zeit ist —- mit wenigen Ausnahmen — noch kein Weg zur Lösung eingeschlagen. Es fehlt ein konstruktiver, fruchtbarer und phantasiereicher Plan, der dann einen echten strategischen Feldzug gegen Hunger und Verarmung ermöglicht.

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Die Entwicklungsstrategie der Dritten Welt im achten Jahrzehnt wird zum zentralen Problem der internationalen Wirtschaftspolitik werden. Umfaßt werden von dieser Strategie alle jene Staaten, die weder zu den westlichen Industrienationen noch zu den Ostblockländern gezählt werden können, das heißt die Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. Dazu ist es notwendig, daß sich die Industrienationen über dieses Problem klar werden: zur Zeit ist —- mit wenigen Ausnahmen — noch kein Weg zur Lösung eingeschlagen. Es fehlt ein konstruktiver, fruchtbarer und phantasiereicher Plan, der dann einen echten strategischen Feldzug gegen Hunger und Verarmung ermöglicht.

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Die Grundprinzipien, auf denen ein solche Strategie für das achte Jahrzehnt aufzubauen hat, sollen hiei umrissen werden: Erstens muß ein Analyse der bisherigen Entwicklungshilfe stattfinden, um weiter Fehlschläge oder „Tröpfchenhilfe“ zt vermeiden. Und daraus resultiert bereits die Dringlichkeit, bei der Beratung über die Probleme der Dritten Welt nicht am „grünen Tisch' einen kalten Krieg fortzusetzen, sondern eine gemeinsame Lösung zu finden: denn Entwicklungspolitik is Friedenspolitik. Es ist zudem — odei deshalb — der Grundsatz angebracht, daß nur die Ziele der Entwicklungsländer selbst maßgebend sind. Das einzelne Land kann nämlich seine Entwicklung vorantreiben, indem es jene spezifischen Ziele, Prioritäten und Methoden wählt, die ihm angemessen sind. Die Industriestaaten müssen sich davor hüten, die Entwicklungsländer in die Zwangsjacke globaler oder auch nur regionaler Ziele und Richtlinien stecken zu wollen. Nur dann wird die Strategie eine dauerhafte Wirkung haben. Und zum zweiten müssen sich alle Beteiligten ihrer gegenseitigen Abhängigkeit stärker bewußt werden, wenn dem achten Jahrzehnt in der Entwicklungshilfe ein Erfolg beschieden sein soll. In den Industrieländern wird sich die Unterstützung der Öffentlichkeit dafür, daß der Entwicklung in der Politik eine hohe Priorität zugeordnet wird, nur dann gewinnen lassen, wenn eindeutig und nachdrücklich bewiesen ist, daß die Bevölkerung und die Regierungen der Entwicklungsländer sich begeistert für die Entwicklung einsetzen und sich bemühen, den Nutzeffekt bei der Verwendung der Ressourcen zu steigern. Auf der anderen Seite ist von den Entwicklungsländern nicht zu erwarten, daß sie immer weiterkämpfen, wenn die Hilfe der „Reichen“ unzureichend ist.

Trotzdem erscheint das achte Jahrzehnt durchaus in optimistischem Licht: Das reale Wachstum des Bruttosozialproduktes der Entwicklungsländer lag in den letzten Jahren im Durchschnitt bei 5 Prozent. Das ist eine höhere Zuwachsrate, als sie die Industrieländer jemals über einen längeren Zeitraum hinweg und auf eine ähnliche Stufe der Modernisierung hin erzielen konnten oder in den sechziger Jahren verwirklicht haben. Quantitativ gesehen, hat das Bildungswesen enorm expandiert, denn seit Anfang der fünfziger Jahre haben sich die Schülerzahlen nahezu verdreifacht. Und nie zuvor ist die Sterbeziffer so rasch im Sinken gewesen. Dieser dadurch bedingte Bevölkerungszuwachs hat zur Folge, daß 65 Prozent der Investitionen allein für den Bedarf der zusätzlichen Bevölkerung aufgewendet werden müssen, gegenüber weniger als 25 Prozent in den Industrieländern.

Selbsthilfe

Expertengespräche und politische Auseinandersetzungen über eine umfassende Dekadenplanung haben schon vor geraumer Zeit eingesetzt. Dabei war man bemüht, in dieser Strategie die Verflechtung der verschiedenen Entwicklungsziele zu einem organischen Ganzen zu finden. Im Gegensatz zu der ersten Entwicklungsdekade sollen in der zwei-

ten Ländergruppe — und nicht wie bisher Einzelstaaten — bestimmte Beiträge zur Erreichung eines bestimmten Entwicklungszieles leisten. Die Vereinten Nationen legten dazu

ein Mindestwachstumsziel für die Entwicklungsländer fest, das fünf Prozent für das Sozialprodukt pro Jahr vorsieht, und zogen auch ein Mindestvolumen an Entwicklungshilfe der Geberländer in Betracht, das eine Höhe von einem Prozent des Volkseinkommens haben soll. Noch unklar ist, ob das Wachstumsziel von fünf Prozent für jedes einzelne Land gelten soll oder für alle Entwicklungsländer im Durchschnitt. Eine andere Schwierigkeit, die auftritt, ist die Tatsache, daß es sich bei den Entwicklungsländern um keinen homogenen Block handelt — wie der Ausdruck „Dritte Welt“ irrtümlich annehmen läßt —, sondern um vielfach differenzierte Möglichkeiten und Anstrengungen.

Der Hauptakzent der Entwicklungshilfe wird auch in Zukunft bei einer Schwerpunktbildung liegen: Gezielte Hilfe für die Landwirtschaft in den Entwicklungsländern hat dort heute bereits zur „Grünen Revolution“ geführt. Ein Riesenberg von Butter und eine Pyramide von Getreide kennzeichnen aber trotzdem die Dramatik einer Welt, wo einem Überschuß in einigen Ländern ein Mangel an Nahrungsmitteln in vielen anderen gegenübersteht. Der größte Teil dieses Uberschusses gelangt nicht in die Länder, in denen der Hunger regiert, und in den Industriestaaten sowie den bereits aufstrebenden Ländern der Dritten Welt gehsi trotz dem Spiel von Angebot und Nachfrage die Preise für Nahrungsmittel nicht zurück.

Warum sich die Lage so verhält, ist heute noch unbekannt, das achte Jahrzehnt hat aber darauf die Antwort zu geben: Während ungezählte Millionen nach Brot hungern, finden die größten Weizenproduzenten der Welt nicht einmal Lagerräume für den Weizenüberschuß, den sie Jahr für Jahr ernten. Im FAO-Bericht für das Jahr 1969 heißt es, daß West-

europa eine dringende Lösung für den großen Uberschuß an Molkereiprodukten finden muß. Die beiden nordamerikanischen Länder USA und Kanada stehen wieder einmal vor dem Problem, die überschüssigen Weizenmengen ins Ausland zu exportieren. In dieser Lage sprechen die statistischen Zahlen eine beredte Sprache: Die Hauptanbauländer, ohne die Sowjetunion und Ungarn, verfügten 1969 über Lagerbestände an Weizen in der Höhe von 63 Millionen Tonnen. Indien, Pakistan, Philippinen und Mexiko können sich jetzt durch ihre Getreideproduktion selbst ernähren und dürften innerhalb der nächsten dreißig Jahre auch Uberschüsse aufweisen. Japan rechnet mit einer um 5,6 Millionen Tonnen über

dem voraussichtlichen Verbrauch liegenden Reisernte. In Brasilien entsteht ein Berg von 40 Millionen Sack Kaffee zu je 60 Kilogramm. Die Butterbestände in den größten Ländern ohne die Sowjetunion belaufen sich auf 552.000 Tonnen, und an Magermilchpulver stehen in der ganzen Welt mehr als 490.000 Tonnen zur Verfügung.

Es gibt genug Nahrung

Die drei Lösungen, die sich angesichts dieser Situation für das achte Jahrzehnt aufdrängen, führen noch nicht zu einer Entspannung. Eine geringere Produktion würde mehr kosten und auch ein größeres Risiko darstellen. Die Uberschüsse zu verschenken, würde das Gleichgewicht im Welthandel stören. Bisher konnte der Absatz auch nicht durch eine Preissenkung entsprechend gesteigert werden. Die FAO verlangt jedoch eine Lösung, auch wenn sie zu größeren Veränderungen in der Re-gierungs- und Agrarpolitik verschiedener Länder führen sollte. Wie FAO-Generaldirektor Boerma vor der 15. Konferenz dieser Organisation erklärte, muß die Suche nach Lösungen der zunehmenden Selbstversorgung den Entwicklungsländern zugute kommen. Abgesehen von den ärmeren Ländern, wohin Nahrungsmittel als Hilfe geliefert werden, führen die hohen Überschüsse zu keinen niedrigen Preisen für die hungernden Konsumenten. In einer Welt, in der die Preise ständig steigen, muß der Bauer auch höhere Erlöse erzielen. Die Preisstützungen, die die Landwärtschaft von den Regierungen erhält, führen zu hohen Konsumentenpreisen in den großen erzeugenden Ländern. Auch wenn es sich um Überschüsse handelt, sind Nahrungsmittel mit einem Preis verbunden, der bezahlt werden muß — gewöhnlich von einer Regierung. Wenn die

Nahrungsmittel verschenkt werden, geraten — wie bereits erwähnt — die Märkte aus dem Gleichgewicht. Und das Verschenken von Nahrungsmitteln kostet noch dazu Geld. Sie müssen vom Bauern gekauft werden, und es kommen noch die Kosten für Verpackung, Transport und Lagerung hinzu. FAO-Schätzungen zufolge belaufen sich die jährlichen Kosten für die Lagerung von Getreide auf etwa 10 Prozent des Wertes. Bei Butter betragen sie infolge des Verderbs noch wesentlich mehr. Die verschiedenen Regierungen kämpfen mit der Lösung — von der eine Möglichkeit heute nicht mehr in Betracht gezogen wird: Wie in den dreißiger Jahren werden in den USA keine Ferkel mehr vernichtet, und in

Brasilien wird kein Kaffee mehr in Lokomotiven verheizt. Das ist daß eine Problem, das zu bewältigen ist: Es gibt genügend Nahrung, und trotzdem leiden zwei Drittel der Menschheit an Unter- oder Fehlernährung.

Das achte Jahrzehnt kann in und mit der Dritten Welt nur dann erfolg-

reich werden, wenn es auf drei Pfeilern ruht:

• eine genaue Bestimmung der Ent-wicklungsziele,

• eine präzise Feststellung der Mittel, die zur Erreichung dieser Ziele notwendig sind,

• feste Zusagen der beteiligten Länder, einen bestimmten Beitrag zur Entwicklungshilfe zu leisten.

Noch keine Verzweiflung

Es ist geplant, daß die UNO-General-versammlung 1970 eine allgemeine Erklärung über die zweite Entwicklungsdekade abgibt, die diese Hauptziele der Entwicklungsstrategie enthält. Dieses logische Gerüst aber mit politischem Inhalt zu füllen, wird außerordentlich schwer sein. Wahrscheinlich wird als Ziel die Steigerung des Wohlstandes der Menschen in den Entwicklungsländern formuliert werden, wozu ausreichende Ernährung, gesundheitliche Versorgung und soziale Sicherheit gezählt werden. Die Erarbeitung und Harmonisierung der Wachstumsziele ist noch nicht abgeschlossen. Doch eine Reihe von Richtlinien wurde von den Vereinten Nationen bereits festgelegt: eine jährliche Durchschnittswachstumsrate für die Länder der Dritten Welt von etwa 6 Prozent für das Gesamtprodukt, 4 Prozent für die Landwirtschaft, 8 bis 9 Prozent für die Industrie, 7 bis 8 Prozent für den Importbedarf, 2,5 Prozent für das Bevölkerungswachstum und eine Sparrate von 15 bis 20 Prozent am Ende des Dezenniums. Was die Mittel zur Erreichung des Entwicklungszieles betrifft, befinden sich die Experten in einem Durcheinander der verschiedenen Wachstum, theorien, die alle nach dem 'MotorHäs wirtschaftlichen Fortschritts eines Landes suchen. Ist dieser bei den Bodenschätzen, beim Kapital oder bei den Menschen selbst zu suchen? Alle drei Faktoren bilden gemeinsam den Motor, und nun besteht die Aufgabe darin, neben den Eigenleistungen der Entwicklungsländer eine Koordination der drei Komponenten zu finden und sie durch Auslandshilfe gezielt zu stützen. Das achte Jahrzehnt erfordert primär eines: eine Entscheidung! Noch besteht kein Anlaß zur Verzweiflung; es besteht aber das Gebot, sich endgültig der Dritten Welt zuzuwenden.

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