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Hinter Suez — der Welt-Islam?

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Der Islam angesichts der Suez-Krise.

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Der Islam angesichts der Suez-Krise.

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Die Suez-Krise, in diesen Tagen auf einem Höhepunkt angelangt, lenkt das Augenmerk der besorgten Europäer wieder einmal, wie so oh in vergangenen Zeiten, auf den Islam. Hat sich nicht Oberst Nasser zum Feldherrn des Welt-Islams proklamiert? Marschiert der Islam wieder, wie einst, gegen Europa? So einfach liegen die Dinge nicht. Der Welt-Islam heute ist größer und komplexer, als Nasser haben will, und läßt sich nicht einfach vor seinen Karren spannen. Gerade in diesen heißen Septembertagen tut deshalb ein Hinweis auf zwei Tatsachen not: auch Nasser hat seine Schwierigkeiten mit dem Islam. Und wie die Aussprachen islamitischer Theologen in Rom und islamitischer Politiker in Spanien zeigen, bahnen sich gerade heute friedlichere konstruktive Möglichkeiten einer Zusammenarbeit zwischen Europäern, Christen und Mohammedanern in Afrika und Asien neu an. (Die Furche)

Die arabische nationale Erhebung ist ohne den Islam als die volkseigene Religion des Arabertums nicht denkbar. Diese Religion ist im ganzen Vorderen Orient, mit Ausnahme der Türkei und teilweise auch Persiens, politisch unverdächtig und erscheint in den Augen der einheimischen Bevölkerung vielfach als der religiöse Weg zur politischen' Freiheit.

Die Anstrengungen Aegyptens, durch. Mobilisierung der religiösen Gefühle seinen nationalen und politischen Forderungen stärkeren Nachdruck zu verleihen, haben in der erwähnten ' Tatsache ihre Begründung. Der Besitz der tausendjährigen theologischen Universität „Al-Azhar“ gibt Aegypten eine gewisse gesetzliche Handhabe, die Führung der islamischen Welt für sich zu beanspruchen. Dem Islam gegenüber fühlt sich daher der Nachfolger des Pharaonenreiches als sein großer Beschützer und Förderer.

Die in der Tradition begründete islamische Politik Aegyptens hat nach der nationalen Revolution sich elw versteift als gelockert. Es schien zwar zeitweise, als ob die neuen Männer an der Regierung auch einen neuen Kurs gegenüber dem Islam zu verfolgen gedenken. Besonders das harte Vorgehen gegen die „Moslembrüderschaften“ kam so manchem Panislamisten unverständlich vor. Doch eine Reihe anderer, entschieden proislamischer Maßnahmen der Regierung auf dem kulturellen und politischen Gebiet drängten den anfänglichen Widerstand kirchlicher Kreise zurück. Auch der Staatschef Gamal Abd al Nasser legte ein klares Bekenntnis zu der Sache des Islams ab. „Das Herz schlägt mir höher beim Gedanken an die ungeheuren Möglichkeiten, die in einer Vereinigung der Moslems liegen“, schreibt er in seinem Buch „Psychologie der Revolutionen“. „Und wir sind nach den Gesetzen der Geographie dazu bestimmt, die führende Rolle in dieser islamischen Welt zu spielen.“

Zugunsten der Echtheit der Gefühle des ägyptischen Staatsmannes spricht sein lebhaftes Interesse für politische und wirtschaftliche Fragen der islamischen Welt. Diesem Interesse ist die Bestellung seines Freundes Oberst Anwar as-Saadat zum Generalsekretär des Islamischen Kongresses entsprungen. Auch seine gelegentlichen Besichtigungen der islamischen Institute in fremden Ländern, so etwa in Bosnien anläßlich seines Besuches bei Tito, haben hierin ihren Ursprung. Aegypten sorgt nach wie vor für die theologische Ausbildung einer großen Anzahl ausländischer Studenten und übersendet sogar zu diesem Zweck Stipendien nach dem Ausland. In der religiösen Gedankenwelt des ägyptischen Staatschefs ist auch der Ausgang des vor kurzem eingeleiteten Kampfes um die Einführung des islamischen Religionsunterrichtes in christlichen Missionsschulen in Aegypten zu suchen. Bekanntlich soll nach einem Regierungsdekret, welches im Dezember in Kraft tritt, in allen auf ägyptischem Boden befindlichen Schulen der Religionsunterricht erteilt werden, und zwar, ie nach der Konfessionszugehörigkeit der Kinder, für jede Religion getrennt.

Bei aller Betonung der religiösen Gefühlsmomente in der maßgeblichen ägyptischen Politik steht es fest, daß Aegypten gleich allen arabischen Staaten, mit Ausnahme vielleicht von Saudi-Arabien, in nationalistischen Wässern steuert. Der Islam gebietet zwar die Liebe zum Vaterland, verwirft aber, genau so wie das katholische Christentum, den Nationalismus als eine Form des exzessiven nationalen Patriotismus. An diesem Gegensatz zwischen Gesetz und Leben, zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zerbricht praktisch die Idee der „islamischen Solidarität“ in der Weltpolitik.

In einer kürzlich von der türkischen Presse veröffentlichten Analyse der arabisch-ägyptischen Haltung zum Weltislam konnte Aegypten eine wiederholte Mißachtung der „islamischen Solidarität“ nachgewiesen werden.

Die türkischen Vorwürfe konzentrieren sich auf folgende drei Fragen der internationalen Politik:

• Auf der von Griechisch-Orthodoxen und Moslems bewohnten britischen Insel Zypern vergehe fast kein Tag, ohne daß das Leben und Eigentum der dortigen Moslems durch die griechische Untergrundbewegung EOKA In dieser oder jener Form verletzt werden. Trotzdem finde Kairo es für angebracht, in seinen Radiosendungen und in der Presse die Sache der zypriotischen Rebellen zu verteidigen und sich sogar zu ihrem politischen Werkzeug machen zu lassen,

• Aus dem chinesischen Turkestan seien unter dem Druck des kommunistischen Regimes tausende Moslems in die Länder des Nahen Ostens, darunter auch Aegypten und Saudi-Arabien, geflüchtet. Kairo sei über die traurige Lage ihrer in der Heimat verbliebenen Glaubensgenossen gut unterrichtet. Dennoch habe es nicht unterlassen, das religionsfeindliche Regime in China anzuerkennen.

• Dem von alten antiislamischen Ressentiments zergehenden Hinduindien halte Aegypten in fast allen politischen Angelegenheiten die Stange. Die Einstellung und Interessen der benachbarten islamischen Republik Pakistan werden dabei wenig beachtet.

• Die machtvollen Kundgebungen, die in diesen Wochen in Pakistan, Indonesien und in arabischen Ländern von moslemischen Massen zugunsten des ägyptischen Standpunktes im Suezkanalkonflikt veranstaltet wurden, zeigen, daß die „islamische Solidarität“ doch kein leeres Wort ist. Welche Möglichkeiten und Kräfte verbergen sich nun hinter diesem Begriff?

Dem an sich kulturbejahenden Islam war es nicht gegönnt, aus den geistigen Schatzreservoiren der Renaissance und des Humanismus zu schöpfen. So wird er bis auf den heutigen Tag in den Massen seiner Anhänger mehr als Gesetzes- denn als Gesinnungsreligion empfunden und gelebt. Die unausbleiblichen juristischen Kniffe, in denen sich die orientalische Spitzfindigkeit erschöpfte, bedrohten Jahrhunderte hindurch den Bestand seiner Heilslehre. In der Tat reduziert sich der Islam vieler Millionen auf mechanische Ausübungen vorgeschriebener Kultformen, vielfach aber auch auf ein Lippenbekenntnis und eine billige Frömmelei. So sind die Massen der Moslems in Asien und Afrika in ihrer geistig-religiösen Entwicklung etwa hinter Europa weit zurückgeblieben. Diese Frucht einer ungünstigen geschichtlichen Entwicklung wurde durch die jahrhundertelange Fremdherrschaft bis zum Aeußersten gesteigert.

Der geistige Horizont der breiten Volksschichten, etwa der arabischen Beduinen oder der pakistanischen Bauern, übersteigt kaum die Grenzen ihres Stammes oder ihrer Dorfgemeinschaft. Ein abgeklärtes National- oder Religionsbewußtsein ist ihnen fremd. In den gegenseitigen menschlichen Beziehungen herrscht oft das Recht des Stärkeren. Nicht die moralische Verantwortung, sondern die Angst vor der Strafe hält den Durchschnittsbeduinen von Missetaten ab. Die Selbstsucht hat starke Wurzeln geschlagen, und die Geringschätzung des eigenen Glaubensgenossen ist etwas Normales. Wie oft mußten die wenigen im Orient lebenden Moslems aus Europa die bittere Erfahrung machen, daß ihre gesellschaftliche Bedeutung und ihr beruflicher Ruf in den Augen ihrer Glaubensbrüder mit jenem Augenblick schlagartig heruntersanken, als sie mit der Bekanntgabe ihres moslemischen Namens und ihres Glaubensbekenntnisses herausrückten. Es wurde mir wiederholt versichert, daß man in den einfacheren Kreisen es einfach nicht begreifen könne, daß ein Moslem, sei er auch europäischer Abstammung, genau den gleichen Wert haben kann wie etwa ein christlicher Arzt aus Europa, mag der moslemische Europäer noch so viele ärztliche Diplome besitzen.

Die islamische Welt leidet Mangel an gut gebildeten, der neuen Zeit gewachsenen und ihrem Beruf restlos ergebenen Theologen. Eine zentrale kirchliche Organisation besteht nicht. Die autonom verwalteten Kirchenbehörden der einzelnen Länder sind veraltet und unbeweglich. Das religiöse Leben ist vielfach schablonenhaft geworden. Eine systematische Betreuung der Jugend im kirchlichen Sinne fehlt. Die in arabischen Ländern bestehenden „Vereinigungen der moslemischen jungen Männer“ vermögen ihren Namensvettern in der evangelischen Welt bei weitem nicht nachzueifern. Weite Kreise der Intelligenz, besonders in der Türkei und in Persien, sind der Säkularisierung anheimgefallen. Unter der pakistanischen, indonesischen, irakischen und transjordanischen Studentenschaft sind ziemlich starke kommunistische Einflüsse zu spüren.

Die jungen ägyptischen Revolutionäre, mit Oberst Abd al-Nasser an der Spitze, haben sich zur Aufgabe gestellt, mit dieser moralischen und politischen Misere als einem unglückseligen Erbe der Jahrhunderte gründlich aufzuräumen. Das kann aber nur dann geschehen, wenn die arabischen und moslemischen Menschen das Selbstvertrauen wiedergewinnen und zunächst als Gemeinschaft und dann auch als einzelne die volle Verantwortung für die Zustände in ihrem eigenen Heim übernehmen. Jedwede Bevormundung oder gar Unterjochung entledigt sie dieser hohen moralischen Berufung. Es ist daher eine menschliche Pflicht, diesen Erneuerungsprozeß, wenn nicht zu fördern, so doch nicht zu stören. Gerade die bestehenden morschen Zustände, die aber im Vergleich zu den früheren Zeiten viel weniger dreist geworden sind, öffnen der propagandistischen Beeinflussung vom kommunistischen Osten her Tür und Tor. Einer Ausweitung dieses Einflusses muß man im Interesse der gemeinsamen Zukunft der freien Welt vorbeugen.

Die Großsprecherei um die „islamische Solidarität“ darf namentlich in der christlichen Welt nicht zu einem Schreckgespenst werden. Sie ist nur ein Glied in der Kette der Hilfsmittel, deren sich eine Welt von gestern bedient, um auf dem Wege zu einer besseren Zukunft mit dem Westen Gleichschritt zu erlangen. Sie schließt das West-Ost-Gespräch in christlichislamischer Schau keineswegs aus.

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