Putin Kyril - © Foto: IMAGO / ITAR-TASS

Putins Ideologie: Archaische Giftbrühe

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Der argumentative Unterbau von Russlands Angriffskrieg ist ein irrationaler Sumpf aus völkischem Gedankengut, zwänglichem Größenwahn und sowjetnostalgischer Rhetorik. Warum eine diplomatische Lösung utopisch anmutet.

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Der argumentative Unterbau von Russlands Angriffskrieg ist ein irrationaler Sumpf aus völkischem Gedankengut, zwänglichem Größenwahn und sowjetnostalgischer Rhetorik. Warum eine diplomatische Lösung utopisch anmutet.

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Aus russischer Sicht ist der Angriffskrieg in der Ukraine eine Rückholaktion. So lautet das Narrativ für die russische Öffentlichkeit, so wertet Russlands Führung den Krieg, der nicht Krieg genannt werden darf, vor allem aber auch nach außen. Jegliche Einmischung, so heißt es aus dem Kreml, sei eine Einmischung in innere Angelegenheiten, Hilfe an die Ukraine oder auch nur das Ansprechen von Kriegsverbrechen eine Provokation gegen Moskau.

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In der russischen Öffentlichkeit stößt diese Propaganda vorwiegend auf Resonanz. Laut einer Studie des einzigen verbliebenen unabhängigen Sozialforschungsinstituts „Lewada“ stehen aktuell 81 Prozent der Russinnen und Russen hinter dem Krieg. Putin hat demnach eine Zustimmungsrate von 83 Prozent. Vor dem Krieg waren es 66 Prozent. Freilich ist es angesichts des politischen Klimas in Russland und einem Staat, der Widerspruch, unter Haftstrafe stellt, schwierig, zu erheben, was die Menschen tatsächlich denken.

Indes zeigt der verbliebene Protest in Russland gegen den Krieg, wie historisch aufgeladen dieser ist. Selbst die Aktion der TV-Mitarbeiterin Marina Owsjannikowa, die mit einem Antikriegsplakat in die Hauptabendnachrichten platzte, veranschaulicht ein zentrales Motiv: das Narrativ, die Ukraine sei ein „Bruder“ Russlands. In der Ukraine erregte Owsjannikowas Auftritt übrigens offenen Ärger.

Patriarch rechtfertigt Angriff

So bedienen sich auch die Kriegsbefürworter in Moskau des historischen Bildes der beiden Brüder, die zur russischen Welt gehören und nur durch Launen der Geschichte sowie verschwörerisches Zutun getrennt worden seien. In einem Artikel der staatlichen russischen Nachrichtenagentur RIA heißt es etwa: „Die Entnazifizierung der Ukraine wird unweigerlich eine Entukrainisierung und eine Enteuropäisierung bedeuten.“ Das „Ukrainertum“, so heißt es in dem Text, sei „eine künstliche antirussische Konstruktion ohne eigenen zivilisatorischen Inhalt, ein untergeordnetes Element einer fremden und entfremdeten Zivilisation“. Daher ist es nicht verwunderlich, dass das im Süden der Ukraine errichtete russische Besatzungsregime eilig ukrainische Lehrer, Professoren, Aktivisten, Lokalpolitiker oder Journalisten ihres Amtes enthoben, verschleppt und gefoltert hat.

In der Tat wird die Geschichte der Ukraine und Russlands seit jeher instrumentalisiert. Darüber hinaus beruft man sich bei diesen großrussischen Fantasien wieder und wieder auf Kiew. Kiew ist die Geburtsstätte der christianisierten Rus. Das Höhlenkloster Petscherska Lawra in Kiew ist das älteste Zeugnis der orthodoxen Christenheit in der Region – und eines der Konfliktfelder zwischen der Ukraine und Russland. Der Anfang der Misshelligkeiten lässt sich ab dem 15. Jahrhundert datieren. Damals etablierte sich Moskau langsam als zweites Machtzentrum in diesem Kulturraum – erst als Außenposten Kiews, dann als Konkurrenzstätte, schließlich als Machtzentrum, das Anspruch auf Kiew erhob.

Wenn jetzt einschlägige Autoren auf staatlichen russischen Nachrichtenseiten wie RIA erklären, dass „die Wiedergutmachung der Schuld (der Ukraine, Anm. d. Red.) gegenüber Russland“, weil die Ukraine Russland als Feind behandelt habe, „nur in Abhängigkeit von Russland“ erfolgen könne, so finden sich hier Anwürfe, die seit mindestens 500 Jahren die Beziehungen zwischen Moskau und der Ukraine prägen.

Der angeführten Argumentation hatte sich auch Putin selbst in einem Artikel aus dem Sommer des Vorjahres bedient. Ebenso der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche, Kyrill I., bei der Sonntagspredigt in der Kathedrale der Streitkräfte in Moskau: Man wolle keinen Krieg, man wolle nichts tun, um anderen zu schaden, aber: Russen seien dazu erzogen, ihr Vaterland zu lieben, und seien bereit, es zu verteidigen. De facto ist die russisch-orthodoxe Kirche dazu übergegangen, der Ukraine unverhohlen das Existenzrecht abzusprechen.

„Nazifiziertes Werkzeug“

In der Ukraine hatten Kosakenverbände über Jahrhunderte, mal in Allianz mit Polen gegen Moskau, mal in Allianz mit Moskau gegen Polen, gekämpft. Der Preis der Ukrainer waren dabei fast immer Zugeständnisse in puncto Sprachrechte oder auch politischer Rechte. Nur wurden diese nie eingehalten. Ganz gleich ob eine Ukraine unter k. u. k. Hoheit oder in Form einer Zentralukraine, bei allen Rivalitäten und unterschiedlichen Strömungen einte die jeweiligen Konstellationen ein Ziel: die Errichtung eines gemeinsamen eigenen Staates.

De facto ist die russisch-orthodoxe Kirche dazu übergegangen, der Ukraine das Existenzrecht abzusprechen.

Moskau hingegen ließ sich nie darauf ein, Kiew als verwandte Metropole mit gemeinsamer Geschichte auf Augenhöhe und als ukrainisch zu respektieren. Eine argumentative Basis, die sich erwartungsgemäß im aktuellen Krieg widerspiegelt: Die Selbstbeschreibung als Ukrainerin oder Ukrainer und das damit einhergehende Identitätsverständnis seien, so der Autor Timofej Sergejzew auf RIA, nur „das nazifizierte Werkzeug des Westens“. In Sergejzews Logik sind alle, die die Ukraine aktuell verteidigen, Nazis.

In Bezug auf diese Wortwahl gilt es allerdings anzumerken, dass im russischen Sprachgebrauch das Wort „Nazi“ völlig ideologiefrei benutzt wird und nichts anderes beschreibt als einen Feind, mit dem man alles anstellen darf. Sergejzew schreibt davon, dass man diese „Nazis“ „auf dem Schlachtfeld vernichten“ müsse. Auch müssten sie „exemplarisch bestraft werden“. Und weiter: Kollaborateure – und damit sind nicht untere militärische Ränge, sondern ausgesprochenerweise alle Ukrainer gemeint, die sich als Ukrainer verstehen – müssten die „Lasten eines gerechten Krieges“ tragen, der „gegen die Zivilbevölkerung geführt“ wird. Spitzenkräfte seien zu eliminieren.

Genau das also ist die ideologischen Giftbrühe, mit der man es zu tun hat in diesem Krieg. Sergejzew ist hier in der Wortwahl vielleicht deutlicher als andere, nicht aber radikaler im Inhalt: die Autorin Wiktorija Nikiforowa schreibt: „Die Russen sind gekommen, um ihr Land von den Nazis zu befreien.“ Die Ukrainer seien für den Westen nicht mehr als „entbehrliches Material, lebende Schutzschilde, Versuchstiere“. Hingegen sei die „russische Idee“ nichts anderes als „Liebe für die Menschen“.

Es ist diese schizophrene Mischung aus völkischer Ideologie in sowjetnostalgischem Gewand, Verschwörungstheorien (die Ukrainer seien Opfer eines westlichen Bio-Experiments, das sie gegen Russland aufbringe) und Apparatschik-Denke, die aus Russland heraustritt in diesen Wochen – und in der die Diplomatie keinerlei Ansatzpunkte zu liefern scheint.

Was gibt es schon zu besprechen, wenn die staatliche Nachrichtenagentur die Ansicht vertritt, schier der Name „Ukraine“ sei eine Provokation. Was lässt sich besprechen, wenn Russland die ureigenste Problemlage nicht anerkennt – dass es sich in der Ukraine um einen Krieg zwischen zwei souveränen Staaten handelt.

Andererseits ist fraglich, welche Sicherheitsgarantien nach Jahrhunderten der nicht eingehaltenen Zugeständnisse und Versprechen dazu geeignet wären, die Ukraine zufriedenzustellen. Was lässt sich verhandeln, wenn Russlands Außenministeriumssprecherin Marija Sacharowa mit Statements wie diesem vor die Presse tritt: „Die Ukrainer haben die Kochbücher verboten, um das Rezept für Borschtsch (ein Eintopf, meist mit Roten Rüben, Anm. d. Red.) geheim zu halten.“ Nicht zuletzt sind es frappierende Behauptungen wie diese, die den „Nazismus“ und den „Extremismus“, die Russland zu bekämpfen vorgibt, belegen sollen.

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