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Unser täqliches Gift

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Seit einer Million Jahren bewohnt der Mensch die Erde. Viele hunderttausend Jahre verbrachte er in geistigem Dämmerschlaf. Mehr als neunzig Prozent dieser Zeit benutzte er den Stein. Als Werkzeug und als Waffe. Dann fand er das Metall und formte es. Vor ein paar tausend Jahren wurde die Schrift erfunden. Nun begann der Geist sich zu entfalten. Und in jüngster Zeit scheint er zu rasen. Als ob er Versäumtes aus der vergangenen Million von Jahren nachholen müßte. Was geschah nicht alles in den letzten einhundert Jahren? Maschinen eroberten die Welt. Die Eisenbahn dampfte durch das Land. Es ist gar nicht lange her, erhob sich das erste Flugzeug, stieg die erste Rakete in den Himmel. Das erste Radio, der erste Fernseher entstand in dieser Zeit, Fernschreiber, Glühbirne, Mikrophon erleichterten uns das Leben. Dies alles liegt zum Greifen nahe. Eine wilde Entladung geistigen Potentials. Es gelang im letzten Jahrhundert, das Uran zu spalten. Damit war schreckliche Macht in die Hand des Menschen gegeben. Er nutzte sie skrupellos aus.

Die Umwelt wurde völlig verändert. Wälder wurden abgeholzt, der Boden des Kaltes beraubt. Regen spülte ihn weg, Wind riß ihn davon. Lawinen donnerten nieder, riesige Überschwemmungen breiteten sich aus. Nichts konnte den Elementen mehr Halt gebieten. Die Chemie blühte rasch auf und fand schnell Eingang in alle Bereiche des Lebens. Sie ist heute unentbehrlich. Sie gibt uns Mittel zur Hand, den Boden fruchtbar zu halten, schädliche Tiere zu töten. Sie wurde zur gefährlichen Waffe menschlicher Überheblichkeit.

Werfen wir einen kurzen Blick in unser tägliches Leben: des Morgens, wenn wir vielleicht ein Glas Wasser zu uns nehmen, schlucken wir Chlor. Ein giftiger Stoff. Wir lösen den Kaffee in Wasser. Kaffee, der.,.in seiner Heimat ’ "mit Gift DespÄht wurde, um Schädlinge zu töten. Wir essen dazu Butter, die chemisch frischgehalten wurde. Dann rauchen wir eine Zigarette. Neben dem schädlichen Nikotin pumpen wir noch andere Stoffe in die Lungen, gespritzten Tabak etwa, der das Insektengift in seihen Blättern gespeichert hatte.

Glücklich treten wir auf die

Straße. Abgase strömen auf uns ein. Hunderte von Autos stoßen Kohlendioxyd aus. Mit jedem Atemzug saugen wir es auf. Überall lauern Gifte. Wir leben mit ihnen, in ihnen. Niemand kann uns exakt sagen, wie sie auf den Körper wirken. Vielleicht ist eines davon harmlos, vielleicht sogar zwei oder gar drei. Aber täglich genossen, in großen Mengen? Staut sich die Wirkung auf? Mischung mit anderen Giftstoffen, verstärkt das die Auswirkungen? Die Chemiker blicken uns erstaunt an: Die Geister, die sie riefen, werden sie nicht los. Man kann auf diese

Fragen keine sehr exakten Antworten geben. Aber niemand scheut sich, täglich wieder dasselbe zu tun, ;sich täglich erneut mit Giften voll- zustopfeh. Mit dėh sogenannten Früchten der Zivilisation.

Frischer Salat etwa, an Schildkröten verfüttert, tötet die Tiere. Wir essen aber viel Salat, weil er angeblich so gesund ist. Gesund war, müßte man genauer sagen.

Um unsere Ernährung sicherzustellen, haben wir zu vielen Kniffen Zuflucht genommen. Wir krempeln die natürliche Landschaft um. Wir verändern die Gemeinschaft von Pflanze und Tier. Eine Gemeinschaft, die in Jahrmillionen geworden. Die radikale Veränderung muß sich auswirken, das ist klar. Und meist wissen wir leider nicht, wie.

Monokultur wird etwa betrieben. Nur eine einzige Pflanze. Auf tausenden von Kilometern. Alles andere muß vernichtet werden, eliminiert. Chemikalien werden in die Erde gestopft. Noch größer müssen die Pflanzen werden, der Ertrag muß steigen! Der Boden muß alles hergeben. Seine letzten Kraftreserven. Er wird ausgelaugt und völlig erschöpft.

Schädlinge, die ehedem diese Pflanze bedrohten, wurden hintangehalten. Durch die Umwelt, andere Tiere. Doch nun ist das alles anders. Das Wort Monokultur wird zum Paradiese für Schädlinge. Hier können sie sich austoben, schrankenlos vermehren. Es gibt keine Feinde, die sie an eiserne Zügel ketten. Um ihre Alleinherrschaft zu brechen, muß gespritzt werden. Möglichst viel und gründlich, sagt der Bauer. Er will rasch eine Wirkung sehen. Dadurch werden die Tiere des Bodens vernichtet, versteht sich. Sie sind es aber, die die Erde auflockern, bearbeiten, den Pflanzen neue Nahrungsgründe erschließen, den Wurzeln das Vordringen erleichtern. Sie fördern Wohlergehen und Wachstum der Pflanzendecke. Aber sie werden ausgeschaltet. Auf ihre Wohltaten wird verzichtet. Dafür wird künstlich gedüngt, kommen fremde Stoffe in die Erde. Und die Pflanzen speichern das Gift der Insektiziden. Oft sehr lange. Karotten mehr als ein Jahr.

Ein Apfelbaum etwa muß, damit er unbeschädigte Früchte von hoher Qualität tragen kann — genau ge nommen stimmt der Ausdruck „Frucht“ hier nicht, doch botanische Feinheiten zu erörtern, ist hier nicht der Platz — acht- bis zehnmal im Jahr gespritzt werden, wird gesagt. Man kann sich leicht vorstellen, wieviel Gift da mit jedem Apfel verspeist wird.

In den USA etwa entlassen siebzig Millionen Kraftfahrzeuge pro Jahr: 70 Millionen Tonnen Kohlendioxyd, neuneinhalb Millionen Tonnen Kohlenwasserstoff… All das und noch manche andere Gase werden brav täglich eingeatmet. Als Ergänzung sozusagen, senken Industrien ihren Ruß und ihre Abgase auf die Ortschaften. Mit Nebel vermischt, bildet sich der gefürchtete Smog, der vierzig Prozent der Sonnenstrahlung verschluckt, der das'AtmėŽ:‘bėhiii- dert, sich auf die Brust legt, die Augen entzündet und Bäume am Wachsen hindert.

Wasserstoffbomben, in der Atmosphäre gezündet, regnen auf uns nieder. Ihre gefährlichen Reste legen sich auf unsere Lebensmittel. Gleichsam, um den anderen Giften Nachdruck zu verleihen, um deren Wirkung zu „verbessern“. In unserer Hand liegt es leider nicht mehr, unseren Körper gesundhalten zu können. Wir ruinieren ihn systematisch und zielstrebig.

Unsere Fabriken bringen tonnenweise schädliche Abfallprodukte in die Flüsse. Die Fische überleben diese Angriffe nicht. Viele, fast alle Fische sind gezeichnet von einem weißen Gürtel aus Verpilzungen um ihren Körper. Einen Gürtel des Todes. Wenn aber die Fische sterben, „jubilieren“ die Mücken. Sie, die bevorzugte Nahrung der Fische, haben nun Ruhe. Die vier- bis fünfhundert Eier, die jedes Weibchen legt, können ungestört heranreifen. Kein „Gast“ setzt sich an den reich gedeckten Tisch. Zu Tausenden schwärmen die Mücken aus. Für ihre Vermehrung gibt es keine natürliche Schranke mehr. Dafür aber eine künstliche. Nun werden uns diese Tiere lästig, sie quälen uns durch ihre Stiche. Wir schwören, bittere Rache zu üben. Chemische Rache. Blindwütig versprengen wir kübelweise Insektizide. Sie legen sich auf das Gras und das Wasser, töten viele sehr nützliche Tiere. Sie lagern sich an im Gras, das vom Weidevieh gefressen wird und nisten sich ein in dessen Fleisch. Fleisch, das auf unsere Tische gelangt.

Sie haben gelernt, zu überleben. Man sagt, sie wurden resistent gegen die gesprühten Gifte. Also wird wieder gespritzt Intensiver, stärker, tödlicher. Und wieder sammelt das Gras alles auf, äst es das Vieh ab, landet das Gift in unseren Mägen.

Und die Mücken? Auch gegen die stärkere Dosis werden sie immun. Und nun spritzt man noch stärkere Gifte. Ein Teufelskreis!

Die Sprühmittel aber, die im Boden liegen, werden eines Tages vom Regen ausgewaschen und gelangen in den Fluß. Wo sie logischerweise in die Körper der Fische kommen. In eine, wie wir sagen, gesunde Nahrung. Der Weg der Gifte führt aber weiter. Durch die Strömung gelangen sie nun ins Meer. So können auch die Meerestiere teilhaben an den Segnungen der Zivilisation. Fische, aus lichtloser Tiefe heraufgezogen, wiesen zum Erstaunen und Erschrecken der Wissenschaftler in ihren Geweben DDT auf. Und wenn wir uns nicht sehr beeilen, die angeblich sehr nahrhaften Meeresalgen in Nahrung für die hungernde

Menschheit zu verwandeln, ist es zu spät.

Es ist Tatsache, daß etwa' Mütter ihre SäugMrige mit DDT-Miich ernäfefen. StflfitäfiSv ist urišfer Kör- per schon mit Giften durchsetzt. Von manchen Stoffen wissen wir erst seit jüngster Zeit, daß sie genetisch wirken. Daß durch ihre Schuld Mißgeburten entstehen können und sterile Nachkommen. Von anderen Stoffen wissen wir fast nichts. Da können wir bloß abwarten, welche Folgen sich zeigen. Dann allerdings alles rückgängig zu machen, ist zu spät.

Bedenken wir doch, was wir alles bekämpfen: Unkraut etwa besprühen wir nach dem Motto: doppelt hält besser. Wir tun alles im Übermaß. Denn es muß rasch gehen. Und wirkungsvoll. Dafür kann die Menge gar nicht groß genug sein. Außerdem haben wir Mücken, Motten, Fliegen und vielen anderen Tieren den Kampf angesagt. Daß Pflanzenschädlinge mit besonderem Nachdruck getötet werden, ist klar. Nur sehr langsam und schleppend setzt sich der Gedanke der biologischen Schädlingsbekämpfung durch. Nur sehr langsam gelingt es, Einblick zu erhalten in die Welt der Gifte und ihrer Wirkungen. Mühsam werden Nahrungsketten festgestellt. Von Organismus zu Organismus. Allmählich begreift man, in welch hoher Konzentration die schädlichen Stoffe an den Endwirt, den Menschen, gelangen. Und zu uns kommt es auf jeden Fall, das Gift. Besonders angreichert. In uns trifft es auf „liebe Freunde“, mit denen es sich freudig verbindet.

Man müßte den Mitmenschen eigentlich folgenden Rat geben auf den Weg in die Zukunft: Essen Sie nichts, trinken Sie nichts, rauchen Sie nicht, atmen Sie nicht und Sie werden sich eines langen und überaus gesunden Lebens erfreuen.

Eine Hoffnung: Viele Lebensmittel sind doch nicht gespritzt, viele werden mit Hilfe radioaktiver Strahlen frischgehalten, als gesunde, bekömmliche Nahrung. Gesund? Ist es nicht schon einerlei, wer uns die schädlichen, die giftigen Stoffe in den Rachen schiebt, die Chemie oder die Atomphysik? Deswegen werden sie auch nicht weniger schädlich.

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