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Unfaßbare Hungersnot

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Die Hungerkatastrophe in Äthiopien wurde weltweit bekannt. Daß es ein ähnliches Elend in der ganzen Sahelzone gibt, zeigt der folgende Beitrag des Bischofs von Ouahigouya (Burkina Faso).

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Die Hungerkatastrophe in Äthiopien wurde weltweit bekannt. Daß es ein ähnliches Elend in der ganzen Sahelzone gibt, zeigt der folgende Beitrag des Bischofs von Ouahigouya (Burkina Faso).

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Die Ernte des Jahres 1983 war nicht gerade reichlich. Es war eher ein mageres Jahr. Schon im Oktober 1983 waren fast alle Vorräte des OFNACER (Getreidefonds des Landes) erschöpft, und die Leute rissen sich um die wenigen Lebensmittel, die nur spärlich aus den Nachbarländern zu uns gelangten.

Die Rationierung war außerhalb der großen Zentren sehr schwierig. Und gegen Ende des Jahres haben alle, die in der Trok-kenzeit üblicherweise anderswo arbeiten, zahlreicher denn je das Land verlassen. In den Dörfern sind die alten Leute, die Frauen und die Kinder zurückgeblieben, sie haben so schlecht und recht dahingelebt bis zur nächsten Regenzeit, von der sie jedesmal Wunder erhoffen.

In diesem Jahr begannen sie diese Jahreszeit schon mit einem großen Handikap: mit leeren

Speichern und leerem Magen.

Die verspäteten und sehr unregelmäßigen Regenfälle entmutigten einen Teil der Bauern so sehr, daß sie ihre kaum sprießenden Kulturen verkauften oder verließen, um in erfolgversprechendere Regionen zu ziehen. Aus Mangel an jeglicher Ubergangsnahrung begnügten sie sich damit, Blätter zu essen. Leider sind nicht alle Blätter genießbar, und die heuer so schlecht bewässerten Bäume trugen nur wenig eßbare Blätter.

Trotz der Entbehrungen stürzten sich die Bauern auf die Feldarbeit, hofften gegen jede Hoffnung. „Zwei oder drei Regenfälle noch, und ein Teil unserer Ernte wäre gerettet. Ein einziger Regen und die Hirse in den Niederungen wird reif”, sagten sie. Aber leider, an Stelle dieser paar Regengüsse kamen heftige Winde, welche die mageren Halme, die der unerbittlich anhaltenden Trockenheit standgehalten hatten, auch hoch knickten und zu Boden warfen.

Von da an waren alle überzeugt, daß noch so viel Mühe, noch so viel Arbeitseinsatz den Menschen nichts mehr bringen würde; höchstens ein bißchen Futter für das Vieh, dessen Bestand aber auch von Hunger und Durst äußerst dezimiert ist. Die überlebenden Tiere werden zu Spottpreisen verschleudert, damit sich ihre Besitzer ein paar Lebensmittel kaufen können.

Was also tun, um zu überleben? In Europa kann der Arme, oder wer es zu werden droht, der Bauer, der aus irgendeinem Grund eine schlechte Ernte gehabt hat, sich an den Versorgungsstaat wenden, der ihm das Auskommen sichert. Bei uns haben die Unglücklichen keine Aussicht auf Hilfe.

Ihre einzige Uberlebenshoffnung ist das Drängen in die Städte, die schon voll sind mit Arbeitslosen und Bettlern. Was soll*s, sie werden die Anzahl dieser Leute noch vergrößern und die Stadt in ein Bettlerquartier verwandeln, Bettler um Arbeit — oder einfach um Essen.

Das sehen wir tagaus, tagein in den Ballungszentren wie Ouahigouya. Unsere Stadt wurde zum Treffpunkt für Auswanderer. Unsere Stadt ist aber auch ein Treffpunkt für Menschen auf Nahrungssuche. Man kann sich vorstellen, wie sich diese Männer und Frauen gedemütigt vorkommen: Sie haben wie wahnsinnig auf ihren Feldern gearbeitet, und nun müssen sie um irgendeine Beschäftigung flehen, um zu essen zu haben.

Und leider finden gar nicht alle • mehr eine noch so bescheidene Arbeit. Die Zahl derer, die die Hand aufhalten, steigt ständig. Scharen von Unglücklichen belagern pausenlos unsere Tür. Und jeder hat seine Geschichte — oder besser seine Tragödie, die er durchlebt.

Ein etwa sechzigjähriger Mann, aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Ouahigouya kommt zu mir. Nach der üblichen Begrüßung reicht er mir ein Perlhuhn: „Nimm es”, sagt er zu mir, „und gib mir soviel, daß ich eine Ration Hirse cur meine Familie kaufen kann. Wir haben nicht ein einziges Körnchen mehr im Haus.” Zwei Tage später kommt er mit einem Eselspflug: „Nimm den Pflug und gib mir Hirse.”

Kaum ist er draußen, höre ich:

„Die Zwillinge grüßen dich.” Und ohne eine Antwort abzuwarten, setzt sich eine Frau auf einen Stuhl und' wickelt ihre Zwillinge aus, die sie, eines auf dem Rücken, eines auf der Seite, umgebunden hatte. Im gleichen Augenblick stürmen fünf andere kleine Kerle in mein Büro. „Das sind auch meine Kinder”, sagt die Frau. „Ich muß sie alle mitnehmen, weil ich daheim absolut nichts zu essen habe. In der Stadt kann sich doch jeder ein bißchen was von dem holen, was man uns gibt. Das Schlimmste dabei ist, daß ich auch noch meinen Mann ernähren muß, der, weil er verrückt geworden ist, in einer Hütte eingesperrt ist.” Am nächsten Tag erscheinen zwei Mütter, beide mit Zwillingen. „Die Zwillinge grüßen dich”. Sie kommen von ziemlich weit her, vierzig oder fünfzig Kilometer von Ouahigouya.

„Unsere Männer sind vor mehr als sechs Monaten auf Nahrungssuche ausgezogen, aber bis jetzt ist nichts davon zu sehen. Wir haben die Felder bestellt, aber die Hirse ist nur 50 cm hoch geworden und vertrocknet, bevor sich die Ähren gebildet haben. Wir haben alle unsere Vorräte aufgebraucht, wir haben Blätter gegessen, solange es welche gab, wir haben alle Tiere verkauft, unseren Schmuck, sogar unsere Kleider. Wenn wir nicht weggehen, werden unsere Kinder und wir sterben. Die Alten sterben schon.”

Was meine Gesprächspartner besonders bewegt, das sind die Tragödien, die sich in ihrer unmittelbaren Umgebung abgespielt haben, wie die folgenden Fälle etwa:

Eine Mutter, die ihr viertes

Kind erwartet und nicht mehr weiß, wie sie für die drei anderen sorgen soll, setzt ihrem Leben und dem ihrer Kinder ein Ende, indem sie sie in einen Brunnen wirft und selber nachspringt.

Ein anderer, der von seinen vielen Beschaffungsversuchen nichts nach Hause bringen konnte, erhängte sich. Bei seinem Anblick ruft seine Frau aus: „So hast du uns also reingelegt!” Sagt es und erhängt sich auch. Und überläßt die armen Kinder ihrem traurigen Schicksal.

Wo Hungersnot herrscht, da lockert sich der Anstandskodex. Die leichten Mädchen verkaufen sich nicht mehr, um sich schön zu machen, sondern um zu überleben. Gestohlen wird alles, vom Geld bis zu Lebensmitteln. Man achtet das gegebene Wort nicht mehr: Laster, die wegen der Hungersnot stark zugenommen haben.

Niemand stellt sein Elend gerne zur Schau. Und aus dieser Scheu heraus war vielleicht so wenig die Rede von der Hungersnot, die in Burkina Faso (früher Obervolta) wütet. Aber kann man aus einer noch so begreiflichen Scheu heraus schweigen?

Wir möchten, daß sich die internationalen Hilfsorganisationen etwas mehr für das Schicksal der Menschen in Burkina Faso interessieren. Bis vor kurzem hatten wir den Eindruck, daß sie die Situation in unserem Land ignorierten. Warum sollte unser Land kein Recht darauf haben, mehr Solidarität von Seiten der reichen Länder erwarten zu dürfen?

Spenden können auf das Konto 274967 bei der Raiffeisenkassa Hötting „Hilfe für Bischof Tabsoba” eingezahlt werden.

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