Prophetische Christen - © Illustration:  Rainer Messerklinger

Früher als andere: Prophetisches Christsein heute

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Propheten sind oft gar nicht einfache Zeitgenossen, deren Vordenken wiederholt in tiefe Konflikte mit dem jeweils zeitgenössischen Mainstream geführt hat. Das Zeugnis des Dietrich Bonhoeffer ist beispielhaft dafür.

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Propheten sind oft gar nicht einfache Zeitgenossen, deren Vordenken wiederholt in tiefe Konflikte mit dem jeweils zeitgenössischen Mainstream geführt hat. Das Zeugnis des Dietrich Bonhoeffer ist beispielhaft dafür.

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Es gibt Menschen, die früher, viel früher als andere spüren, dass nichts mehr ist, wie es war, dass Neues beginnt, ja schon begonnen hat, und dass im Untergrund der Kultur tektonische Verschiebungen stattgefunden haben, die irgendwann, ja bald alles erschüttern werden. Friedrich Nietzsche war solch ein Mensch, oder auch Karl Marx. An beiden erkennt man aber auch, wo ihr Problem liegt: Sie sind umstritten, stehen allein oder mit wenigen Getreuen in harten Konflikten und ihre Diagnosen sind oft weit besser als ihre Therapievorschläge. Vor allem aber legen sie sich mit den herrschenden Mächten an und werden dabei bisweilen selbst hart oder zumindest ein wenig wunderlich. Jedenfalls gehen sie ein hohes Risiko ein.

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Dietrich Bonhoeffer (1906–45) war auch solch ein Mensch. Die harten Konflikte, die er einging, kosteten ihn das Leben. Man soll sich auch nicht täuschen: Zeitgenössisch waren auch seine Analysen und mehr noch seine Vorschläge ziemlich wunderlich. Genau genommen sind sie es für das kontinuitätsfixierte und auto­zentrierte Christentum unserer Breiten, das noch nicht einmal die nachholende Entwicklung zu den menschenrechtlichen Standards der spätmodernen Gesellschaft hinbekommt, bis heute. Unserem ganzen bisherigen „Christentum“ wird das Fundament entzogen, und es sind nur noch einige „letzte Ritter“ oder ein paar intellektuell Unredliche, bei denen wir „religiös“ landen können. Was Bonhoeffer da schreibt, traut sich auch heute, viele Jahrzehnte später, noch kaum jemand offen zuzugeben. Und wer möchte gar Bonhoeffers Frage hören: Sollen wir uns eifernd, piquiert und entrüstet ausgerechnet auf diese zweifelhafte Gruppe von Menschen stürzen, um unsere Ware bei ihnen abzusetzen?

„Gewand“ der Religion passt nicht mehr

Bonhoeffer hat der Verdacht, ja schließlich die Gewissheit umgetrieben, dass das Gewand der Religion, wie er es nennt, in das sich das Christentum gehüllt habe, hinten und vorne nicht mehr passt und die Christusbotschaft mehr verbirgt als präsentiert. Er ist sich zunehmend sicher, dass dieses Gewand der Religion die zentrale christliche Frage, die ihn selbst unablässig bewegt(e), und die uns als Christen ja tatsächlich bewegen sollte, wer Christus heute für uns eigentlich ist, eher verschleiert und versteckt. Denn: Nicht der religiöse Akt macht den Christen, sondern das Teilnehmen am Leiden Gottes im weltlichen Leben. Schließlich rufe Jesus nicht zu einer neuen Religion, sondern zum Leben.

Bonhoeffer hat – in einer Zelle der Nationalsozialisten – zwei Dinge realisiert, die bis heute gerne verdrängt werden: dass es an den kulturellen Basiserfahrungen und -mechanismen einer spezifischen Gegenwart vorbei keine Realisation des Christlichen gibt und dass konkret unsere gesamte 1900-jährige christliche Verkündigung und Theologie auf einem religiösen Apriori aufbaut, das nicht mehr existiert. Dieser Situation „glaubensfeste“ Behauptungsdiskurse oder geschlossene Selbstvergewisserungsräume, gespeist und formatiert aus der eigenen Tradition, entgegenzustellen, führt zu nicht viel, wird jedenfalls nur die erreichen, die bereit sind, in solchen Räumen zu wohnen und zu leben. Das aber sind immer weniger Menschen.

Für alle anderen gilt: Man muss nach Ereignissen suchen, die als überraschende Schritte in unsicherem und ungewissem Gelände potenzielle Realisationsorte des Evangeliums sein können. Das aber definiert eine klassisch prophetische Situation, wenn denn „Prophetie“, wie die Exegeten Ulrike Bechmann und Joachim Kügler schreiben, genau dann notwendig ist, wenn „sich aus einer Sprachlosigkeit der Glaubenstradition im Hinblick auf ein bestimmtes Problem praktische Konsequenzen ergeben, die der Glaubenstradition widersprechen“. Prophetie bricht diese Sprachlosigkeit auf und „schließt die Lücke, die das Kerygma lässt, um eine neue, aber glaubensgemäße Praxis zu ermöglichen.“ Prophetie bringt die Botschaft neu, überraschend, umstritten und prekär zur Geltung. Sie stellt sich gegen die alten Institutionen des Glaubens, insofern diese die Tradition hinsichtlich spezifischer Herausforderungen nicht mehr wirklich vergegenwärtigen, aber sie stellt sich auch gegen jene, die diese Vergegenwärtigung nicht mehr für möglich halten.

Prophetische Interventionen sind punktuell, überraschend, verstörend, risikoreich, dann aber plötzlich und unmittelbar plausibel, das, worauf man lange gewartet hat …

Prophetische Interventionen sind das Gegenteil autoritär-institutionell abgesicherter, zentralperspektivischer Wahrheitsansprüche: Sie sind vielmehr punktuell, überraschend, verstörend, risikoreich, dann aber plötzlich und unmittelbar plausibel, das, worauf man lange gewartet hat, ohne es überhaupt zu wissen. Sie sind das, was man wissenschaftstheoretisch Abduktionen nennt, überraschende, nicht notwendige, aber mögliche und kreative Schlüsse mit Risikocharakter. Auf sie hin, auf ihre Ermöglichung hin, wäre Kirche heute zu orientieren.

Es geht um prophetische Spuren von Christinnen und Christen, die spürten und spüren, dass für die christliche Tradition nichts mehr ist, wie es war, und dass es nicht genügt, gepflegt weiterzumachen, um so wenigstens die eigene Stellung mit Würde zu wahren. Denn genau dies geht an die Substanz des Christlichen. Konkret geht es um prophetische Spuren christlicher Existenz im kulturell hegemonialen Kapitalismus der Gegenwart, und das jenseits konservativer Retro-Utopien oder bloßer Affirmation des Bestehenden.

Der französische Jesuit Michel de Certeau (1925–86) etwa hat schon früh und vor vielen anderen wahrgenommen, dass das Christentum die Herrschaft über seine eigenen Traditionen irreversibel verloren hat und seine Einzelteile zu globalen religiösen Marken wurden. Heutzutage ist das Christentum – ähnlich jenen majestätischen Ruinen, aus denen man Steine bricht, um damit andere Bauten zu errichten – für unsere Gesellschaften zum Lieferanten eines Vokabulars, eines Schatzes an Symbolen, Zeichen und Praktiken geworden, die anderswo neue Verwendung finden. Jedermann macht auf seine Weise Gebrauch von ihnen, ohne dass die kirchliche Autorität ihre Verteilung steuern oder ihrerseits ihren Sinngehalt definieren könnte. Die Gesellschaft schöpfe aus diesem Schatz, um auf dem großen Theater der Massenmedien das Religiöse zu inszenieren oder um einen allgemein gehaltenen Beruhigungsdiskurs über die „Werte“ zu organisieren.

Neue Bilder und Formen des Christseins

Bonhoeffer und de Certeau, aber auch spirituelle Prophetinnen wie Dorothee Sölle (1929–2003) oder Madeleine Delbrêl (1904–64) skizzieren eine Neuformatierung des Christlichen, die nicht zuerst am religionsgemeinschaftlichen Weiterbestehen der Kirchen interessiert ist, sondern an den Chancen des subversiven und also alles verwandelnden Christus-Ereignisses. Sie erkunden mögliche Existenzformen des Christentums in einer nach-religiösen, nach-theistischen Konstellation, sie denken die Praktiken des Christentums nach dem Ende seiner Formatierung als starker, identitärer Sozialkörper.

Bei Delbrêl, der französischen Mystikerin, findet sich ein Text, der einen Hinweis auf die spezifische Gestalt geben kann, in der christliche Praktiken auch zukünftig eine Chance haben könnten. Dieser Text entstand zur Zeit der deutschen Besatzung Frankreichs. Delbrêl hatte 1933 ihre bürgerliche Existenz aufgegeben und war als Sozialarbeiterin ins kommunistische Ivry gegangen, aus Solidarität mit dem Kampf der Kommunisten für soziale Gerechtigkeit und gegen die Herrschaft des Kapitalismus, und auch, um im kommunistischen Milieu dessen eigene Gnadenlosigkeiten zu sprengen.

Ihr Ball des Gehorsams skizziert in poetisch leichter, fast unbekümmerter Sprache ein Gottesverhältnis, wie es in säkularen, kapitalistischen Zeiten vielleicht am notwendigsten, am hoffnungsvollsten, sicher aber am schönsten ist. Sie schreibt es ein in das Bild des Tanzes zweier sich Liebender. Vielleicht ist dies ja tatsächlich die privilegierte Gestalt jener prophetischen, abenteuerlichen, subversiven, experimentellen, aufbrechenden Ereignisdynamik, die das Christentum heute braucht, um im hegemonial gewordenen Kapitalismus bestehen zu können, ohne ihm zu verfallen.

Der Autor ist Professor und Leiter des Instituts für Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz.

Christentum im Kapitalismus - © Echter Verlag
© Echter Verlag
Buch

Christentum im Kapitalismus

Wider die gewinnorientierte Verwaltung der Welt
Von Rainer Bucher
Echter Verlag, 2019
224 S., geb.
€ 20,50

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