Fußball - © Foto: Pixabay

"Fußball ist die friedlichere Religion"

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In israelischen Fußballstadien rufen die Fans "Jesch Elohim!" ("Gott ist da!"), wenn ein Tor geschossen wird. Der in Jerusalem lehrende Historiker Moshe Zimmermann begründet, warum der Fußball für ihn zur Religion geworden ist, und warum er lieber auf Tore als auf Menschen schießt.

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In israelischen Fußballstadien rufen die Fans "Jesch Elohim!" ("Gott ist da!"), wenn ein Tor geschossen wird. Der in Jerusalem lehrende Historiker Moshe Zimmermann begründet, warum der Fußball für ihn zur Religion geworden ist, und warum er lieber auf Tore als auf Menschen schießt.

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Moshe Zimmermann (geboren 1943 in Jerusalem) ist Historiker. Seit 1986 leitet er das "Richard-Koebner-Center for German History" an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Zimmermann forscht über die deutsch-jüdische Geschichte zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert. Außerdem kommentiert er regelmäßig die israelische Politik und die deutsch-israelischen Beziehungen. Auf dem Campus der Hebräischen Universität spielt Zimmermann einmal in der Woche Fußball.

Die Furche: Herr Zimmermann, den Sportplatz der Hebräischen Universität auf dem Skopusberg haben Sie mal ihr "Allerheiligstes" genannt. Sind sie ein Anhänger der Religion des Fußballs?

Moshe Zimmermann: Eindeutig ja. Fußball, Sport überhaupt, ist eine Religion, mindestens eine Ersatz-oder Zusatzreligion. Das allermeiste, was man in der Religion sucht, findet man auch im Fußball, sei es als Fan oder als Spieler.

Die Furche: Was finden Sie im Fußball, dass er für Sie zur Religion geworden ist?

Zimmermann: Das ist ein Rahmen, ein Glaube und ein Ritual. Das alles macht eine Religion aus. Natürlich werden gläubige Menschen - Juden, Christen oder Muslime - sofort mit dem Vorwurf reagieren: Da fehlt uns der liebe Gott, die Moral und manche andere Sachen.

Die Furche: An was für einen Gott glauben Sie denn?

Zimmermann: Gott muss nicht wichtigster Bestandteil einer Religion sein, das sagen auch Religionshistoriker. Und: Religionen müssen nicht monotheistisch sein, es gibt auch polytheistische Religionen, da hat man mehrere Götter. Auch beim Fußball gibt es mehrere Götter.

Die Furche: Welche?

Zimmermann: Ich kann mich erinnern, dass ein deutscher Reporter im Jahr 1954 jemanden mal "Fußballgott" genannt hat: Das war Toni Turek, der Torwart der legendären deutschen Siegermannschaft der Fußballweltmeisterschaft von 1954. Zwar intervenierte der Präsident der Bundesrepublik, indem er sagte, dass man Menschen nicht zu Göttern erklären sollte. Aber die Reaktion des Reporters Herbert Zimmermann war symptomatisch: Die Fußballer sind äquivalent zu dem, was man früher Götter nannte. Auch die Art, wie man diese Leute heute in der kommerzialisierten Phase des Fußball verehrt, zeigt, dass die Fans ihre Idole als gottähnlich ansehen.

Die Furche: Haben sie auch einen persönlichen Fußballgott?

Zimmermann: So weit würde ich nicht gehen. Wie gesagt kann eine Religion auch ohne einen Gott funktionieren. Aber ich kann mich gut an meine Jugend erinnern: Da waren manche Spieler für mich Götter oder Halbgötter.

Die Furche: In israelischen Fußballstadien rufen die Fans, wenn ein Tor geschossen wurde "Jesch Elohim!" - "Gott ist da!". Warum dieser Ruf, wenn ein Tor fällt?

Zimmermann: Weil die Fans auf den Rängen davon ausgehen, dass die Entscheidung vom lieben Gott mitgetragen wird. Also in dem Moment, wo unsere Mannschaft - selbstverständlich unsere und nicht die andere - ein Tor schießt, offenbart sich der liebe Gott des Judentums. Das darf man nicht allzu ernst nehmen, aber trotzdem besteht für die Leute eine Verbindung zwischen dem, was auf dem Feld passiert, und dem, was Gott im Himmel angeblich entscheidet.

Die Furche: Aber zeigt das nicht auch, dass die Fußballanhänger letztlich an den herkömmlichen, monotheistischen Gott glauben? Ähnlich ist es in europäischen Fußballstadien; dort bekreuzigen sich Fußballspieler mitunter vor dem Einsatz und erweisen damit dem Gott der Christen ihre Reverenz.

Zimmermann: Die Religion des Sports erlaubt es, das man mehr als einen Gott hat. Man kann Jude und Fußballanhänger sein. Der Gott des Judentums entschied sich für das Tor gegen uns oder für uns - also eher für uns. Da gibt es keinen Konflikt, sondern einen Kompromiss zwischen der herkömmlichen Religion und der Religion des Fußballs. Religion bedeutet ja nicht automatisch Monotheismus. Wir haben uns leider daran gewöhnt, monotheistische Religionen hoch zu schätzen, die auf Ausschluss basieren. Entweder glaube ich an den richtigen Gott oder nicht. Ein Teil der Religionskriege ist ein Resultat dieser Denkweise. Entweder haben wir Recht oder die anderen. Man will zeigen, dass man selber Recht hat, indem man in den Krieg zieht und für den Gott kämpft. So etwas gibt es im Fußball nicht.

Die Furche: Sie meinen, dass die Religion des Fußballs friedlicher ist als die monotheistischen Religionen?

Zimmermann: Wenn man das in Jerusalem sagt, ist das umso deutlicher: Wie viel Blut wurde vergossen, um das Quadrat des Tempelbergs zu erobern? Auf meinem Fußballplatz, auf diesem Quadrat, kämpft man selbstverständlich um Tore zu schießen, aber die Leute werden nicht getötet, und es ist auch nicht die Absicht, jemanden zu verletzen.

Die Furche: Aber anlässlich von Fußballspielen kommt es auch immer wieder zu Gewalt. Zur WM in Deutschland werden viele Polizisten aufgeboten, damit alles sicher über die Bühne geht. Gewalt ist ein Begleitphänomen des Fußballs.

Zimmermann: Es gibt auch falsche Götter und falsche Religiosität. Die Gewalt außerhalb des Sportplatzes ist nicht symptomatisch für den Fußball. Das sind Erscheinungen, die man erklären kann: Es gibt Aggressionen im Fußballspiel - und die übertragen sich auf die Zuschauer auf den Rängen. Es gibt Leute, die nur deswegen zum Fußball kommen, weil sie dort eine Arena finden, um ihre eigene Aggressionen loszuwerden. Aber das sind eher Randerscheinungen, besonders wenn man das mit den anderen Religionen vergleicht: Ein Religionskrieg im 17. Jahrhundert kostete Zigtausende Menschenleben. Das, was im Jahr 1985 im Brüsseler Heysel-Stadion geschah, kostete 39 Menschenleben. Das ist selbstverständlich viel zu viel. Aber im Vergleich sieht man, dass die Religion des Sports weniger tödlich ist als die Religion, die wir in der Regel hoch schätzen.

Die Furche: So wie Sie würden freilich auch die Vertreter der monotheistischen Religionen argumentieren: Die Gewalt ist bloß ein Begleitphänomen, wenn man falschen Gottesvorstellungen anhängt. Im Kern seien die Religionen aber friedliebend und förderten Versöhnung und Friede.

Zimmermann: Das bestreite ich. Dort, wo die eigene monotheistische Religion gewonnen hat, herrscht Friede. Aber bis dahin muss man kämpfen. Es geht ja um ein Entweder-Oder. Die historische Erfahrung zeigt, wie bellizistisch Judentum, Christentum und Islam waren. Diese Religionen können nicht mehr sagen, der Krieg gehöre nicht zu ihrer Essenz und sei nur ein Randphänomen.

Die Furche: Was könnten denn die monotheistischen Religionen Ihrer Meinung nach vom Fußball lernen?

Zimmermann: Die friedlichen Regeln als die bestimmenden Regeln zu akzeptieren. Und sie können Toleranz lernen - nicht nur gegenüber der anderen Mannschaft, sondern auch gegenüber Andersdenkenden und Andersglaubenden. Ich idealisiere die Religion des Fußballs etwas, aber es gibt dort Regeln und fair play. Das sind die Merkmale, die den Fußball zu einer friedlichen Religion machen.

Die Furche: Könnte der Fußball auch zur Versöhnung beitragen? Wäre ein Nationalmannschaftsspiel Israel-Palästina denkbar?

Zimmermann: Der Fußball versöhnt nicht weniger als andere Religionen: Auch über die 90 Minuten des Spiels hinaus kann ein Prozess der Versöhnung in Gang kommen. Man sieht es ja sehr oft, dass Anhänger der einen Mannschaft jenseits des Feldes mit den Anhängern der anderen als Gläubige derselben Religion zusammenkommen: Wir sind für 90 Minuten, vielleicht auch auf längere Zeit, Rivalen - aber Rivalität bedeutet nicht Feindschaft und Kriegsbereitschaft.

Die Furche: Noch einmal: Wäre ein Fußballspiel Israel-Palästina ein Beitrag zur Versöhnung - oder würde das die Emotionen so sehr anheizen, dass es ins Gegenteil umschlagen könnte?

Zimmermann: Es gibt beide Alternativen. So wie es im Moment steht, wird ein Fußballspiel die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln sein. Dann haben wir am Ende doch Krieg, Feindschaft und Krawall. Die Voraussetzung für eine Versöhnung zwischen beiden Nationen liegt in der Entscheidung vor dem Fußballspiel. Das Fußballspiel als Ersatz für politische Bemühungen um den Frieden zu nutzen ist meines Erachtens illusorisch.

Das Gespräch führte Christoph Fleischmann.

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