Doris Wagner - Doris Wagner klagt an. - © Filmladen

Lang überfälliger Weckruf

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Brisante Folge einer brisanten Neuerscheinung: Am Veröffentlichungstag von Doris Wagners „Spiritueller Missbrauch“ wurde bekannt, dass P. Hermann Geißler, Büroleiter in der Glaubenskongregation, zurücktritt.

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Brisante Folge einer brisanten Neuerscheinung: Am Veröffentlichungstag von Doris Wagners „Spiritueller Missbrauch“ wurde bekannt, dass P. Hermann Geißler, Büroleiter in der Glaubenskongregation, zurücktritt.

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Dieses Buch ist ein überaus wichtiger Anstoß! Der Stein, den es lostritt, könnte sich zur Lawine auswachsen – wie anno 2010, als der damalige Rektor des Berliner Canisius-Kollegs, Klaus Mertes SJ, an die Öffentlichkeit ging und von jahrzehntelanger sexualisierter Gewalt an seiner Schule berichtete. Wieder wird hier an einem Tabu gerüttelt. Insider kennen es. Andere ahnten etwas. Wieder andere wussten, wollten es aber nicht wahrhaben. Oder sie haben gehofft, dass sich das Problem unter den Tisch kehren lässt. Schweigespiralen.
Es ist zu wünschen, dass dieser Weckruf eine überfällige Debatte in Gang setzt. Sie wird schmerzhaft sein, Wunden offenlegen, ein innerkirchliches Missbrauchssystem demaskieren – „gängige Praxis“, wie man erschüttert eingestehen wird müssen. Manche werden Verrat wittern. Aber: Opfern von spirituellem Missbrauch in der katholischen Kirche wird hier endlich eine qualifizierte Stimme gegeben. Das zählt! Und: Öffentlichkeit ist geschaffen.

Doris Wagner (verheiratete Reisinger), 1983 in Ansbach in eine evangelische Familie hineingeboren (die später zum Katholizismus konvertierte), ist eine mutige Frau. Das hat sie schon 2014 gezeigt, als sie ihr Buch „Nicht mehr ich. Die wahre Geschichte einer jungen Ordensfrau“ veröffentlichte (Wien, Edition a). Unmittelbar nach der Matura in die „Geistliche Familie Das Werk“ (Ordenskürzel FSO) eingetreten, verließ sie ihre Gemeinschaft nach acht Jahren – und berichtet über Briefzensur, Rede- und Schreibverbote, Unterwerfungsrituale, Isolation und den Verlust der Privatsphäre, Bevormundung und Manipulation, Mobbing und Nötigung, spirituelle Anmaßung und Überhöhung bis hin zu sexuellen Übergriffen durch einen Priester der Gemeinschaft. Alles, was man bei Sekten ansiedelt. Psychoterror pur. Vergewaltigung oder der Bruch des Beichtgeheimnisses – keine Kavaliersdelikte! Perfiderweise stellte damals die Gemeinschaft Doris Wagner als Verführerin hin: Sie räche sich mit einer Aussteigergeschichte. Auch dieser Mechanismus gehört, heißt es in ihrem neuen Buch, zum „System“.

Apostolische Visitation von „Das Werk“

Mehrere Medien, darunter das ORF-Religionsmagazin Orientierung, berichteten seinerzeit. Wenn „nichts“ gewesen wäre: Warum ordnete der Vatikan eine 2013/14 durchgeführte Apostolische Visitation an? „Das Werk“ räumte „eine kurze intime Beziehung eines Priesters der Gemeinschaft“ ein. Gleichzeitig wies es darauf hin, dass sowohl in Österreich wie in Deutschland seitens der Staatsanwaltschaft keine Anklage erhoben worden sei. Von „verallgemeinernden Beschuldigungen“ war die Rede. Das System schlug zurück. Das funktioniert, indem man diejenigen, die auf Schmutz hinwiesen, zu Nestbeschmutzern erklärt – und dämonisiert. Die Konstitutionen mussten überarbeitet werden. Ein Generalkapitel wurde verlangt. Wenig drang an die Öffentlichkeit.

1938 gegründet, wurde „Das Werk“ 2001 von Johannes Paul II. als „Familie des geweihten Lebens päpstlichen Rechts“ anerkannt. Sitz der Ordenszentrale ist das Bregenzer Kloster Thalbach. Niederlassungen gibt es in mehreren Ländern Europas, in Jerusalem und den USA. Die Gemeinschaft suchte stets die Nähe zu kirchlichen Hierarchen. In Rom stieß sie bei Bischöfen und Kardinälen auf offene Ohren, bis hin zum päpstlichen Haushalt von Benedikt XVI. Einzelne Mitglieder sind Spezialisten in der Newman-Forschung. Etliche Priester sind promoviert, einige arbeiten in vatikanischen Behörden mit, u. a. in der Glaubenskongregation und in der Kongregation für das Bildungswesen. Das macht die Angelegenheit – und dieses Buch – jetzt auch brisant. Gegen einen Büroleiter der Glaubenskongregation wurden (neue) Untersuchungen eingeleitet. Am Abend des 28. Jänner, als das Buch erschien, wurde bekannt, dass P. Hermann Geißler FSO (unter Beteuerung seiner Unschuld) seinen Rücktritt eingereicht hat, um „Schaden“ von der Kongregation abzuwenden.

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