Lebe-Meister Eckhart

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Der Christ der Zukunft werde ein Mystiker sein: Nicht zuletzt dieses - verkürzte - Wort Karl Rahners gilt viel im "Mystik"-Boom auf dem religiösen Ideenmarkt. Eingedenk der Unmöglichkeit, dem Phänomen Mystik erschöpfend gerecht zu werden, bietet das Dossier ausgewählte Zugänge: Dietmar Mieth, einer der führenden deutschen (Moral-)Theologen über den Mystiker Meister Eckhart (S. 21); Barbara Frischmuth interpretiert die Emmausgeschichte (S. 22) und Ursula Baatz analysiert die "mystische" Faszination östlicher Religionen (S. 24). Redaktion: Otto Friedrich Er ist der christliche Mystiker des Spätmittelalters - Meister Eckharts Denken bleibt weiter brisant: Mystik als Lebenskunst - auch in gottferner Zeit.

M eister Eckhart (1260- 1328) verstand sich als wissenschaftlicher Theologe. Er war Magister, "Meister" der Heiligen Schrift von hohem Ansehen, zwei Mal wie Thomas von Aquin auf den Dominikaner-Lehrstuhl in Paris berufen. Er war praktisch, organisatorisch und reformerisch als Leiter einer dominikanischen Ordensprovinz tätig, die den norddeutschen Raum und Böhmen umfasste. Er war Seelsorger und Spiritual für Frauenklöster und Beginenhäuser, vor allem 1313 bis zirka 1323 im südwestdeutschen Raum, in Straßburg. Er geriet in seinen letzten Lebensjahren als Leiter der Kölner Ordenshochschule (an der Albertus Magnus gelehrt und Thomas von Aquin studiert hatte) unter die Anklage des Kölner Erzbischofs, insbesondere wegen seiner Predigten in der Volkssprache vor "Ungelehrten" , denen man ein rechtes Verständnis nicht zutraute.

Insofern kann man Eckhart auch einen Anwalt der Demokratisierung in der Kirche nennen, obwohl er gewiss nicht daran dachte, ihre hierarchische Struktur anzugreifen. Sein Denken richtete sich ja auf das "Innen" des Menschen, nicht auf äußere Strukturen. Denn er hielt daran fest, dass es immer "das Obere" und "das Untere" gebe, freilich in einer Weise, die ihm die Schärfe nimmt: das Untere ist, so sagt er, im Oberen auf die Weise des Oberen, das Obere im Unteren auf die Weise des Unteren sichtbar. Dies entspricht den Legenden, die über ihn erzählt wurden: Sie zeigen ihn als Bruder Eckhart, der keinen Autoritätsabstand behauptet. Das heißt nicht, dass er sich nicht selbstbewusst seiner wissenschaftlichen Kompetenz bewusst war.

Jeder Mensch kann verstehen

* Zunächst: Alle, jeder Mann und jede Frau, sind aufgrund ihres Menschseins fähig, die Wahrheit zu verstehen und ihr in ihrem Leben zu gleichen. Aufgrund ihres Menschseins deswegen, weil Gott Mensch geworden ist. Dies bedeutet eine Aufwertung des ganzen Menschengeschlechtes. Denn "Mensch" ist insofern eine objektive Gottesbeziehung, die jeder hat, auch wenn er sie nicht erkennt und anerkennt, als eben Menschsein die göttliche Annahme der Menschennatur, des menschlichen Wesens, in sich trägt. Mit dieser Lehre ist bei Eckhart auch der Unterschied im Menschsein zwischen Getauften und Ungetauften, so wenig er ihn geleugnet hätte, nicht mehr ein Wesensunterschied: dem Heiden (Muslim) jenseits des (Mittel-) Meeres in Afrika soll man soviel Gutes gönnen wie seinem Freunde. Das ist zwar gleichsam theoretisch und nicht praktisch gesagt - aber es hat Konsequenzen, wenn man es zu Ende denkt, was spätere Jahrhunderte getan haben.

* Zum Zweiten heißt diese Gottfähigkeit eines jeden durch sein Menschsein, dass die Schöpfung eine große Rolle spielt. Denn die Menschwerdung Gottes ist ein geschichtlicher Angelpunkt, um den sich bereits die Schöpfung dreht. Das geschieht ständig, weil die Welt ohne Gott ins Nichts fiele, und weil Gott sich die Welt durch den Menschen anverwandelt. Alle Geschöpfe weisen von sich weg als Wegweise auf Gott, und dieser geht durch jeden Menschen hindurch, auch wenn er bei sich selber bleibt und in diesem "Bei sich selbst" unerkannt ist. Die Schöpfung ist eine "Wirklichkeit" (spezifischer Ausdruck bei Meister Eckhart im Sinne von anhaltender Aktivität, "Wirk"-lichkeit): "Gott wirkt und ich werde."

* Zum Dritten ist jeder in der Lage, das Innensein Gottes in seiner Seele zu erfassen und zu klären, so etwa wie man einen Spiegel reinigt, den Spiegel der Seele, in dem Gott als Bild zu sehen ist, freilich, weil der Spiegel unter einer Wasserfläche - Sinnbild der geschaffenen Welt - liegt, nicht ohne Brechung. Denn die Strahlen der Sonne, die in den Spiegel scheinen, der unter Wasser auf dem Boden des Beckens ruht, werden durch das Wasser "gebrochen", sodass sie zwar den Spiegel, der sie anzieht, treffen, aber man nicht gleichsam entlang des einstrahlenden Lichtes zu seiner Quelle gelangen kann. Aber jeder ist in der Lage, den Spiegel zu reinigen, das heißt, das geschöpfliche Sein für Gott und seine "Wirklichkeit" zu öffnen. "Schaut, was ihr alle tut!"

Gott im Menschen geboren

Diese Inwendigkeit Gottes im Menschen wird auch so ausgedrückt, dass Gott im Menschen geboren wird. So wie Jesus historisch Mensch wurde, so wird der Mensch, indem er die Gottmenschlichkeit in seiner "Seelenspitze" befreit, für Gott so offen und ihm so zugewandt, dass er in jedem seiner Handlungen den Weg in Gottes Herz (oder seinen "Schoß") zurückfindet. Der Geburt Christi im Menschen entspricht die Wiedergeburt ("widertragunge", das deutsche Wort für das lateinische Relation) des Menschen in Gott.

Die Beseitigung des hierarchischen Gesellschaftsbegriffes auf dieser Ebene geschieht dadurch, dass der "Adel" zum "Adel der menschlichen Seele", eines von Eckharts wichtigsten Predigtthemen wird: der "edle" Mensch ist jetzt jeder Mensch, der aufbricht und sich bereitmacht.

Herausgeraten aus diesem Prozess, der jedem möglich ist, kann man durch die Sünde. Aber Eckhart hat die frohe Botschaft, dass mit jeder Reue und Buße dieser Prozess ungeschmälert wieder aufersteht. Vergebung hat bei ihm nicht das Odium bleibender Sündenstrafen.

Drei Lebens-Fragen

Aber welche Rezeption seiner Gedanken hatte Eckhart als "Lebemeister" (Lehrer der Lebenskunst im Unterschied, zum Magister, dem "Lesemeister") selber vor Augen? Er dachte nicht an das, was sich die Menschen aufgrund seiner Lehre kirchlich oder politisch (was damals fast das gleiche war) herausnehmen könnten, sondern an das, was sie durch die Änderung ihres spirituellen, persönlichen und gemeinschaftlichen Lebens erreichen könnten. (Vermutlich war er eher überrascht, als das Persönliche das Politische wurde, aber wir wissen zu wenig darüber, was er reformiert hat und warum er sich dabei kirchenpolitische Gegner zuzog, wir wissen nur, dass es so war.)

Um Eckharts Lebenskunst einzuordnen, behelfe ich mir mit der Gegenüberstellung dreier Fragen:

* Wie weiß ich, was ich zu tun habe?

* Wie will ich, was ich soll?

* Wie kann ich, was ich will?

Wie kann ich, was ich will?

Die Antike antwortete, wenn ich das richtig sehe, auf die erste Frage: indem ich mich selbst erkenne. Das Tun vollzieht das Wesen des Menschen, das immer auf Ziele ausgerichtet ist. Die Ziele sind mit jenen Mitteln zu wählen, die dem Wesen des Menschen entsprechen. Aus diesem Ansatz entstand die Lehre von den Tugenden.

Die Moderne, am Beispiel Kants, stellte sich die zweite Frage: Wenn der gute Wille gut ist und mir damit sagt, was ich soll: Wie mache ich meinen Willen gut? Indem ich ihn von falschen Antriebskräften reinige, sodass schließlich Wollen und Sollen eines sind.

Meister Eckhart stellt die dritte Frage in den Vordergrund, obwohl ihm die beiden anderen nicht fremd sind. Denn das Erbe der antiken, aristotelischen Tugendlehre ist bei ihm präsent. Und die Reinigung des Willens ist ohnehin ein Programm, das über die religiösen Bereitschaften zum vollkommenen Leben angestrebt wird. Aber diese Frage geht nicht nach dem Sollen, sondern die nach dem "Können-sein" war ihm die Wichtigste: Wie kann ich, was ich will? Denn wenn doch das Ziel klar ist und die Mittel dazu anerkannt sind - wie kann ich so sein, dass ich das Gute und Richtige tue? Denn Eckhart war der Überzeugung, dass man anders zu sein habe, um anderes, das man anstrebe, zu tun: "Nicht gedenke man Heiligkeit zu setzen auf ein Tun, sondern auf ein Sein", heißt es in seiner Schrift "Reden der Unterweisung".

Darum wiederholt er diesen Ansatz am Beispiel jeder Analyse des guten Lebens: Wer gerecht ist, das heißt, wer aus der Gerechtigkeit kommt, der handelt gerecht; wer gelassen ist, ist anders als der, der bloß gelassen hat und sich vielleicht mit diesem Verzichtsgefühl plagt; wer frei und losgelöst ist, der ist wie einer, der keinen Besitztrieb und kein Selbstinteresse kennt: wer arm ist, ist wie einer, der nicht will, nicht weiß und nicht hat. Auf das "nicht" kommt es an, denn es geht ja nicht um ein Streben nach nichts, sondern um eine Reinigung des Strebens überhaupt. Wer die Wirklichkeit will, muss sich in ihrer bloßen Erscheinung trennen. Abschiedlichkeit heißt diese Trennung.

Diese enorme Distanz zu allem "Worumwillen" treibt den Menschen in eine Sphäre, die Eckhart mit der "Wüste" benennt: das bloße Sein, hineingehalten in das Nichtsein, Auszeichnung durch Schöpfung und Gottesbildlichkeit einerseits und durch Endlichkeit andererseits. Und doch ist diese Sphäre nicht Endziel, sondern Wendepunkt: der Sinn der Freiheit im Sein ist die Fruchtbarkeit im Tun. Der Durchbruch in die "Wüste" ist zugleich der Weg in die blühende Welt, bei der die "Frucht schon in der Blüte" erscheint.

Jungfrau und Weib zugleich

Das alles geschieht nicht in mühsamem Training, sondern im Blitzschlag des Augenblickes, der die Blätter des Lebensbaumes, auf den er trifft, umwendet. Handeln ist dann umgewandtes, fruchtbares Sein. Die scheinbare Frucht- und Wirkungslosigkeit dessen, der umkehrt zum Sein, erlaubt die Rückkehr zur Wirklichkeit, ja ihren eigentlichen Mitvollzug: das Mitwirken mit Gott an der Schöpfung, an sich selbst, an der Gemeinschaft.

Darum ist der Mensch zugleich "Jungfrau" und "Weib", unberührt und daraus fruchtbar. Denn "Wirken in der Zeit ist ebenso adelig wir irgendwelches Sich-Gott-Verbinden". Der kontemplative Lebensbetrachter verwandelt sich in den aktiven Lebenskünstler - dies freilich in einem zutiefst religiösen Sinn, denn die wahre Lebenskunst vollzieht sich in Erkenntnis und Liebe. Und dies in einer Selbstverständlichkeit, die mit sich eins ist und nicht mühsam darüber nachdenken muss, was der Mensch will oder was er soll.

Augenblicklichkeit eines "Durchbruchs", nicht mühsam errungener Erfolg eines Trainings: das soll heißen, dass man erst erfolgreich "üben" kann (dagegen ist Eckhart ja nicht!), wenn der Sprung ins Anderssein erreicht ist. Es entspricht der Erfahrung, dass etwa derjenige, der sich in immer neuen Versuchen etwas "aneignen" will, dann scheitert, wenn sich nicht vorher sein Wesen und damit sein Sein "umgewandt" haben. Man kann dafür banale Beispiele wie das Nichtrauchen oder das Fasten verwenden.

Johannes Tauler, der im 14. Jahrhundert im Geiste Eckharts predigte, war der Meinung, dass es für ein umgewandtes Lebens in Liebe eine wahre Bekehrung brauche. Muss ich erst ein anderer werden, ehe ich anderes tue (oder denke)? Oder werde ich auf dem Rücken meines Tuns ein anderer, wie die Tugendlehre der Tradition annahm: eine Haltung, die durch Handlungen gut wird (Thomas von Aquin)? Oder geschieht dies erst, wenn mein Tun jene Einstellungsänderung vollzieht und ausdrückt, von der schon Paulus sagt, dass sie allein das Tun fruchtbar macht? ("Und wenn ich meinen Leib zum Verbrennen hingäbe, hätte aber die Liebe nicht, so wäre dies alles nichtig.")

Warum lebt das Leben?

Vielleicht kann man sich dies mit einem Beispiel erklären. Wir sagen: Ich weine, weil ich traurig bin; ich lache, weil ich fröhlich bin. Wir lassen Trauer nicht aus dem Weinen und Fröhlichkeit nicht aus dem Lachen entstehen (das tun dagegen Neurophysiologen). Offensichtlich nehmen wir die Gestimmtheit des Seins als Ursache für die Lebensäußerung. So etwa kann man Meister Eckhart verstehen.

Wirklichkeit, Sein und Leben sind für Eckhart nicht trennbar. Darum spricht er auch gern von diesem "ohne Worumwillen" als Kunst des Lebens: "Fragte man das Leben, warum es lebt, es würde antworten: ich lebe darum, dass ich lebe."

Der Autor ist Professor für Theologische Ethik an der Kath.-Theol. Fakultät in Tübingen.

BUCHTIPP:

Meister EckHart Mystik und Lebenskunst Von Dietmar Mieth. Patmos Verlag, Düsseldorf 2004. 210 Seiten, geb., e 18,50

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