Die Offensive des Hungers

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Forscher schlagen Alarm: Bis 2016 werden steigende Preise weitere Hungersnöte verursachen. Allein die aktuelle Krise stürzt 100 Millionen Menschen mehr ins Elend. Auswege sind möglich.

Es riecht förmlich nach Konflikt zwischen den Organisationen, die die Welt verwalten. Geht es nach dem Chef der Welthandelsorganisation WTO, Pascal Lamy, dann gibt es nichts Schlimmeres als das: Bauern, die sich selbst ernähren und gemeinsam auch noch ihre Volkswirtschaft erhalten können, ohne Nahrungsmittel zu importieren. Geht es nach den Vereinten Nationen, dann ist aber genau das der zu beschreitende Weg: Hilfe zur Selbsthilfe, um die schlimmsten Folgen der Globalisierung abzufedern. Allzu drastisch sind die Ergebnisse jüngster Forschungen ausgefallen: 2008 gab es über 960 Millionen Hungernde - 8,8 Millionen Menschen starben an Unterernährung. Die WTO bestreitet die Zahlen zwar nicht, rüffelt aber bei Gelegenheit gerne die UNO-Experten. Pascal Lamy: "Anzunehmen, dass weniger Handel und größere Eigenversorgung das Problem lösten, würde dem Welthandel die Schuld am Hunger geben. Wenn überhaupt, dann hat aber der Welthandel die Nahrungsmittelpreise reduziert."

Diese Entlastung der Konsumenten geschah aber offenbar auf dem Rücken der ärmeren Länder: Von 1990 bis 2006 sind 50 Staaten der Erde ärmer geworden, 25 Nationen wurden zu Hungerländern (Angaben des Human Development Report der Vereinten Nationen). Die Industrialisierung der Landwirtschaft und der Umstieg auf Monokulturen hatte zur Folge, dass sich das Nahrungsmittelangebot in den produzierenden Nationen Südamerikas, Asiens und Afrikas drastisch verengte. Die Bauern produzierten nach Angaben des UNO-Statistik-Büros UNSD-Comtrade zwar mehr, doch der Wert ihrer Produkte und damit ihre Einnahmen sanken um mehr als die Hälfte.

Die Gefahr offener Märkte

Mit drastischen Folgen: "Offene Märkte sind gefährlich für die armen Nationen", lautet etwa das Resümee einer Studie der UN-University Helsinki. Ein klares Indiz dafür ist, dass in der aktuellen Finanzkrise besonders die weniger entwickelten Länder an ihrem Lebensnerv getroffen sind. Nicht nur versiegt der Strom der Auslandsinvestitionen und damit von Hunderttausenden Arbeitsplätzen (Laut IWF sanken die Investitionen in Afrika von 700 auf 120 Milliarden Dollar). Nun droht auch noch eine Hungerkrise als Folge neuer Massenarbeitslosigkeit. Anfang Mai schlug die Welternährungsorganisation FAO Alarm: Zu den insgesamt 1,2 Milliarden vom Hunger bedrohten Menschen werden krisenbedingt 100 Millionen dazukommen, so der zuständige UN-Bereichsleiter David Nabarro. Auch Nabarro sieht mittelfristig nur einen Weg aus der katastrophalen Lage: "Wir müssen in klein strukturierte Landwirtschaft investieren, um die Armut zu lindern." Dass aber Armut, Elend und Hunger in den kommenden sieben Jahren noch weitaus stärker werden könnten, zeigt eine aktuelle Studie der Berliner Humboldt-Universität, die der FURCHE vorliegt. Demnach werden sich die Nahrungsmittelpreise bis 2016 verdoppeln, weil die Produktion von Lebensmitteln den Bedarf nicht mehr decken könne, so der Leiter des Projektes, Gerhard von Witzke. Das Modell der "landwirtschaftlichen Tretmühle", die seit 1870 mit einer Ausweitung der industriellen Landwirtschaft immer mehr Nahrungsmittel erzeugen konnte, sei abgelaufen.

Die zur Verfügung stehende Fläche werde seit dem Jahr 2000 nicht größer, sondern tendenziell kleiner. Dazu trage unter anderem die fortschreitende Erosion bei. 25 Milliarden Tonnen Boden pro Jahr werden unfruchtbar, so Schätzungen der Vereinten Nationen. Die Erschließung fruchtbarer Flächen sei weitaus geringer.

Demgegenüber wächst die Zahl der zu Ernährenden rasch an. Bis 2025 werden über neun Milliarden Menschen auf der Erde leben. Dazu kommt noch, dass Schwellenländer wie China und Indien durch den steigenden Wohlstand immer mehr Bedarf an Getreide und Fleisch haben. China ist in den vergangenen Jahren dazu übergegangen, fruchtbares Ackerland in anderen Nationen, etwa in Indonesien und auf den Philippinen, aufzukaufen, was den betroffenen Ländern weitere Nahrungsmittel entzieht.

Die Industrienationen verwenden auf der anderen Seite Nahrungsmittelpflanzen, um den umstrittenen Biosprit herzustellen: Einhundert Millionen Tonnen Getreide wurden 2008 zur Herstellung pflanzlicher Treibstoffe verwendet. Mit einer solchen Menge könnte man 400 Millionen Menschen ernähren. Selbst die Weltbank kritisiert diese Entwicklung: Biotreibstoffe seien für 50 Prozent der Preissteigerungen 2007/2008 im Lebensmittelbereich verantwortlich, so eine Studie der Organisation.

Den hoffnungsvollen Prognosen der FAO, die Welt verfüge noch über Millionen Quadratkilometer unerschlossenes Ackerland, schenken die Experten von der Humboldt-Universität keinen Glauben. Bei einer genauen Prüfung der möglichen Flächen etwa in Spanien habe sich herausgestellt, dass es sich zwar um fruchtbaren Boden handle, der aber abgeschnitten von jeder Bewässerung sei. Alle Faktoren zusammen könnten für einen enormen Preisanstieg sorgen.

So könnte der Preis für eine Tonne Weizen von 158 auf 272 Dollar steigen, Mais von 106 auf 219 Dollar, Ölsaaten von 233 auf 492 Dollar. Vor allem in den ärmsten Ländern der Welt wird die Nahrungsmittelknappheit zum gesellschaftlichen Zündstoff. Dort wird sich laut Witzke die Zahl der vom zunehmenden Mangel betroffenen Menschen bis zu verfünffachen. Witzke befürchtet deshalb eine politische Destabilisierung dieser Länder, mit gewaltsamen Ausschreitungen und Umstürzen.

Ausweg durch Modernisierung

Die Forscher empfehlen in einem Fünf-Punkte-Programm Auswege, die so gar nicht nach dem Geschmack umweltbewussten Zeitgeistes klingen und die auch nicht mit den Schlussfolgerungen der UNO harmonisieren: Mehr Investitionen in die Forschung und hier auch in die Gentechnik; der vermehrte Einsatz von Düngemitteln und neuen Lagermethoden. Derzeit würden vor allem in Entwicklungsländern über 50 Prozent der Ernte durch Schädlinge und schlechte Lagerung sowie Mängel beim Transport vernichtet werden.

In die Berechnungen ist übrigens eine mögliche erdölinduzierte Inflation noch gar nicht mitberechnet. In den Jahren um 2007/08 hatte das massive Ansteigen des Erdölpreises auch zu den Preissteigerung von Lebensmitteln beigetragen. Ein Drittel der damaligen Preissteigerungen war auf Spekulationen an den Rohstoff- und Landwirtschaftsbörsen zurückzuführen, so die Weltbank. Beim G20-Gipfel wurde zwar eine umfassende Aufsicht der Finanzmärkte beschlossen, doch von einer Sperre der Spekulation bei lebenswichtigen Gütern ist bis heute nicht die Rede.

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