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Dossier

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Die Gentechnik verändert zunehmend das Erbmaterial von Pflanzen und Tieren. Die Folgen für die Nahrungsmittelproduktion sind enorm.

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Die Gentechnik verändert zunehmend das Erbmaterial von Pflanzen und Tieren. Die Folgen für die Nahrungsmittelproduktion sind enorm.

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Dieser Tage wurde im EG-Rat ein brisantes Thema diskutiert, das die Zukunft der Nahrungsmittelproduktion entscheidend beeinflussen wird. Es geht um die sogenannte „Novel-Food-Verordnung”, die unter anderem auch die Kennzeichnung gentechnisch manipulierter Lebensmittel vorsieht.

Über diese Frage wird innerhalb der EU schon lange gestritten. Osterreich will zusammen mit den Deutschen, Schweden, Dänen und Portugiesen eine umfassende Kennzeichnungspflicht. Was in den Lebensmitteln drin ist, soll für die Konsumenten deutlich lesbar auch außen draufste-hen. Die Vertreter Frankreichs und Englands wollen hingegen ein solche Kennzeichnung nur, wenn es sich um eine „wesentliche Veränderung” des Produktes handelt. Ob es zu einer Einigung beziehungsweise zu umsetzbaren Beschlüssen gekommen ist, stand bei Redaktionsschluß noch nicht fest.

Das Thema „Gentechnik und Lebensmittelproduktion” weckt jedenfalls Emotionen, Ängste und Befürchtungen. Worum geht es?

Die Gentechnik befaßt sich mit der Entschlüsselung und in der Folge mit der Veränderung nicht nur des menschlichen, sondern auch des tierischen Erbmaterials. So ist es bereits möglich, Gene über Artgrenzen hinweg in andere Organismen zu transferieren, also neue Informationen in das bestehende Erbmaterial einzuschleusen. Die nutzbaren Eigenschaften von Pflanzen und Tieren können somit ganz nach Wunsch verändert werden. Was das für unsere Nahrungsmittelproduktion bedeutet, kommt einer Revolution gleich:

Gentechnisch veränderte Nutzpflanzen bringen noch höhere Erträge, sie können je nach Bedarf gegen Insekten und Gifte, aber auch gegen klimatische Bedingungen wie Kälte oder Hitze unempfindlich gemacht werden. Sie überstehen beispielsweise bereits ohne Schäden die Anwendung von chemischen Unkrautvernichtungsmitteln. Auf den amerikanischen und britischen Märkten gibt es schon die sogenannte „Anti-Matsch-Tomate” zu kaufen. Hier ist es den Gentechnikern gelungen, den Alterungsprozeß dieser Frucht zu unterdrücken. Sie bleibt auch nach wochenlangem Transport und längerer Lagerung noch fest, sieht wie frisch gepflückt aus. Dadurch kann sie das ganze Jahr über problemlos transportiert werden. Die Natur setzt den Wünschen der Konsumenten keine Grenzen mehr.

Nicht nur beim Anbau, auch bei der Nahrungsmittelproduktion selbst sind die Manipulationsmöglichkeiten enorm. Genetische Backhilfen verkürzen bereits die Backzeiten, gentechnisch manipuliertes Brot sieht auch nach mehreren Tagen wie frisch aus. Zwei Drittel des gesamten in den USA hergestellten Hartkäses werden mit dem Lab-Ersatz Chymosin gen-technisch hergestellt. Nahrungsmittelbestandteile können ganz nach Bedarf in ihre kleinsten Bestandteile zerlegt und neu zusammengesetzt werden. Aromastoffe und ähnliche Substanzen werden beispielsweise nicht mehr von Maschinen, sondern von manipulierten Mikroorganismen produziert: solche entwickeln etwa beim Heranreifen eines Joghurts ein Erdbeeraroma - der Konsument löffelt dann aus einem Becher, in dem nie eine Erdbeere gewesen ist.

Noch nicht so erfolgreich wie bei den Pflanzen ist man bei der Manipulation der Nutztiere, da ihre Genstruktur komplizierter ist. Aber es ist bereits absehbar, daß die Forschung einerseits in Richtung vermehrtes Wachstum geht; andererseits will man auch die Widerstandskraft gegen jene Krankheiten stärken, die durch die Massentierhaltung entstehen (siehe Seite 16 und 17).

Lediglich bei den Fischen wurden „Fortschritte” erzielt. So können in Kanada Lachse bereits in kälteren Ge-wä^ern' gezüchtet werden, weil sie das Antifrostgen des Kabeljaus gegen tiefe Temperaturen unempfindlich macht. Karpfen leben mit dem Gen für das Wachstumshormon der Forellen, um weniger Fett anzusetzen. Das ist wichtig, da ihnen in der Enge der „Aqua-Zuchtfarmen” die Bewegungsmöglichkeit fehlt...

Halt, halt, halt! werden viele hier einwerfen. Hier werden doch eindeutig Grenzen des moralisch und hygienisch Zulässigen überschritten! Das kann man nicht so ohne weiteres akzeptieren.

Die Befürworter der Gentechnik argumentieren dann: Man solle nicht vergessen, daß die Nahrungsmittelproduktion immer schon beeinflußt wurde. Über die Jahrhunderte hinweg hat der Mensch durch Auslese und Züchtung jene Pflanzen und Tiere hervorgebracht, die den höchsten Ertrag beziehungsweise die höchste Qualität gebracht haben: Aus Gräsern wurde Getreide, aus dem zähen Wildschwein das saftige Hausschwein. Was wir einkaufen, sind heute alles andere als Naturprodukte. Man hat manipuliert, eingegriffen, verändert. Alles wurde für die Landwirtschaft, die industrielle Produktion und den menschlichen Geschmack adaptiert. So sei die Gentechnik ohnehin nur die „logische” Fortführung des Fortschrittes in der Züchtung.

Dem kann man zustimmen. Aber trotzdem stellt sich ein Problem.Wie der menschliche Körper, wie die Umwelt auf die gentechnisch veränderten Nahrungsmittel reagieren, ist noch keineswegs klar. Ein Biß ins Ungewisse ist aber niemanden zumut-,bar. Die Konsumenten haben ein Recht, zu erfahren, was sie einkaufen und was auf den Tisch kommt. Genau darum geht es derzeit in der EU.

Und noch etwas: Weder in der EU

noch in den Gen-Labors werden wohl jene Argumente ausgetauscht werden, die aber auch zu dieser Entwicklung gehören: Leben wir nicht schon jetzt wie im Paradies, wenn wir nicht zu den ärmeren Schichten gehören? Die Regale der Supermärkte biegen sich. Obst und Gemüse ist verfügbar, unabhängig von der Jahreszeit. Fleisch, einst ein besonderer Genuß, türmt sich in den Kühlregalen. Tropische Früchte wie Papaya, Litschi, Kiwis, Ananas werden über Tausende Kilometer für uns herangeschafft. Und die Ansprüche werden immer maßloser. Dabei wissen doch alle: Wir haben von allem schon viel zu viel. W^r verbrauchen, verschwenden, vernichten zuviel und irgendwie ist das nicht gut und im Grunde absurd..

Das mag ein moralisches Argument sein und nicht ein wirtschaftliches. Aber Marktwirtschaft heißt, die Konsumenten entscheiden. Und sie müssen (mit-)entscheiden können, welches Leben sie in Zukunft führen wollen. In der Folge wohl auch darüber, was morgen auf unseren Äckern wächst, welche Ställe wir haben und wie die Tiere darin leben. Und darüber hinaus, ob Pflanzen und Tiere ihr Wesen weiterleben dürfen oder immer mehr, bis tief ins Erbgut hinein, dem industriellen Verwertungsprozeß unterworfen werden sollen.

Die Frage ist, ob die Schöpfung noch halbwegs bewahrt oder jetzt endgültig pervertiert werden soll.

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