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Wo Brezeln und Backhuhn regieren

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Unten auf der „Wiesn“ und oben im Rücken der Bavaria auf dem Messegelände beherrschten kürzlich echte bayrische Essens- und Lebensfreude diie Münchnerstadt. Während in den Bierzelten der großen bayrischen Brauereien zwischen Hofbräuhaus- und Paulanerzelt in Bierstimmung die Bayern sich an Back- und Brathendelhälften ergötzen, taten dies wenige 100 Meter über der „Wiesn“ auf dem Bavariahügel Feinkostfachleute aus aller Herren Ländern an den erlesensten Delikatessen. Die Geschäftsleute aus der IKOFA (Internationale Lebensmittel- und Feinkostausstellung) kommen, wenn sie vom Sektkosten genug haben, auf die „Wiesn“, um mit einer „Maß“ Bier sich den Magen wieder zu kurieren, und Besucher Münchens wieder, die nur aufs Oktoberfest fahren wollten, nehmen in einem Aufwaschen auch gleich einen Besuch der Feinkostmesse mit. Diese Tatsache gab der IKOFA 1968, die bis zum Wochenende in München stattfand, wieder jene reizvolle Stimmung, die nicht nur vom kalten Geschäft des Einzelhändlers mit dem Großhändler bestimmt war, sondern auch den direkten Kontakt des Verbrauchers — sprich „Genießers“ — zum Hersteller ermöglicht.

Ähnlich wie bei der Lebensmittelmesse auf dem Wiener Messegelände ist man auch bei dieser Fachausstellung in München mit den Gratispro- ben sparsamer geworden. Die Ki- bitze und Adabeds, die glauben, mit dem Messebillet sich ein Mittagessen und eine Jause (Brotzelt heißt sie in München) ersparen zu können, zogen, von den wenigen Kartoffel- und Brotgratiskostproben enttäuscht, bald wieder ab. Denn schon die Sektkostproben wurden nur einem kleinen Teil von Interessenten, Händlern und Presseleuten angeböten.

Wer diese Messe heuer sah, der kann sich schlecht vorstellen, daß es in anderen Teilen unserer Erde Hunger, ja sogar Verhungern gibt. Der ernste Gedanke, daß es einfach auf unserer Welt nur an der richtigen Verteilung mangelt, mußte dem kritischen Besucher dieser Feinkostmesse irgendwo einmal dämmern. Es gibt kaum etwas an Delikatessen und Gustostückerln für den Feinschmek- ker, das es bei der IKOFA nicht gab. Die feinsten Delikatessen der französischen Küche in einem Restaurant für französische Spezialitäten mit einem eigenen Austernstand wurden ebenso angeboten wie Delikatessen aus der chinesischen Küche, Feinheiten des afrikanischen Kochtopfes, Lammfleisch aus Neuseeland und amerikanische Lebensmittelprodukte. 50 Länder, davon 38 jeweils in einer Kollektivschau, zeigten, was sie für den verwöhnten Gaumen zu bieten haben.

Darüber hinaus hat die IKOFA aber auch für die gesamte europäische Nahrungsindustrie und Agrarwirtschaft, für den Lebensmittelhandel, für die Getränkeindustrie, für das Hotel- und Gastgewerbe eine echte wirtschaftliche Bedeutung. Direktor Dr. Werner Marzin führte in einem Referat aus, daß die IKOFA ein echtes Konjunkturbarometer für die Ernährungsindustrie und Agrarwirtschaft sei, denn starke strukturelle Veränderungen kennzeichnen derzeit den europäischen Ernährungsmittelmarkt. Betroffen sind davon sowohl die Länder der EFTA wie der EWG. Ein Überfluß sei gleichsam zu einem Menetekel für viele Wirtschaftszweige geworden. Der heimische Markt allein sei heute für die einzelnen Länder kaum mehr maßgebend, alte nationalen Grenzen seien vom Lebensmittelmarkt längst gesprengt worden.

Wenn man mit den österreichischen Vertretern auf dieser Messe sprechen konnte, zeichnen sich diese Entwicklungen, die Marzin andeutete, auch für Österreich immer stärker ab. Auf dem Ernährungssektor besteht in Österreich derzeit ein starker Importüberhang. Während nämlich von Österreichs Gesamtexport nur rund 2,5 Milliarden oder 5,8 Prozent auf Nahrungs- und Genußmittel und Agrarprodukte entfallen, führen wir jährlich um rund 7 Milliarden Schilling Nahrungsprodukte ein, was am Gesamtimport einem Anteil von 12,5 Prozent entspricht.

Nach wie vor ist Österreich, was den Nahrungsmittelfluß betrifft, sowohl im Export wie im Import sehr stark EWG-abhängig. So entfielen 40 Prozent der österreichischen Exporte auf diesem Sektor an EWG- Länder, während die EFTA nur einen Anteil von 22 Prozent hatte. Ähnliche Prozentsätze gelten auch für den Import.

Da Österreich über keine eigene Feinkostmesse verfügt, hat die IKOFA für unseren Markt eine große Bedeutung erlangt. Aus diesem Grund hat auch Handels- mimister Kommerzialrat Otto Mitterer am Dienstag, dem 24. September, die Feinkostausstellung auf dem Münchner Messegelände besucht.

Mehr als 2000 Aussteller

Der großen Bedeutung dieser Feinkostmesse für ganz Europa gerecht werdend und ebenso dem für Delikatessen noch immer sehr aufnahmefähigen mitteleuropäischen Markt entsprechend, nahmen 1968 insgesamt 2000 Aussteller teil.

1056, also mehr als die Hälfte davon, kamen aus dem Ausland.

Aus dem Ergebnis der IKOFA lassen sich für die deutsche Bundesrepublik und für Österreich wesentliche Tendenzen auf dem Nährmit- .teisektor ablesen:

Der Lebensmittelmarkt wird noch weiter internationalisiert.

Deutschland wie auch Österreich sind als Importländer für sehr viele Länder ein aufnahmefähiger Markt. Das Haushaltsbudget und das frei verfügbare Einkommen werden bis 197273 beachtlich ansteigen, die Zahl der Haushalte wird anwachsen, das Übergewicht der älteren Menschen wird die Teenagermärkte, die gerade m’iit Intensität und Fleiß bearbeitet werden, verdrängen.

Der Umsatz der deutschen Ernährungsindustrie wird in diesem Jahr die 50-Milliarden-Grenze überschreiten.

Die Sortimentsbreite im Lebens- mitteleinizelhandel wird weiter zunehmen (zur Zeit etwa 2600 Artikel).

Die Strukturveränderungen im Einzelhandel sind noch lange nicht abgeschlossen.

Mehr Selbstbedienungsläden kommen.

Mehr Lebensrnittel werden künftig in verarbeiteter Form auf den Markt kommen, das gilt sowohl für Gemüse als auch für Obst und Fleisch. Die Entwicklung des amerikanischen Nahrungsmittelmarktes zeigt diesen Trend auch für uns auf. Die Form der Selbstbedienungsläden wird in Europa noch mehr Schule machen als bisher. In 14 westeuropäischen Ländern kletterte die Zahl in zehn Jahren von 10.994 auf 140.970. Mehr als die Hälfte dieser Betriebe (72.241) entfällt allein auf die Bundesrepublik Deutschland. Für den mittelständischen selbständigen Einzelhandel stellt sich hier eindeutig die Frage nach seiner Existenz ähnlich wie für manche Betriebe der Ernährungsindustrie.

• Lebensmittel werden stärker für einen speziellen Gebrauch aufbereitet, z. B. Niedrig-Kalorien-Lebens-mittel oder besondere Ernährung für Jugendliche.

® Neue Konservierungsmethoden werden Boden fassen, z. B. die Gefriertrocknung, die Osmosetrok- nung, die Spraytrocknung. Auf der IKOFA wurden derartige Produkte präsentiert. Auch der Umfang der eingedosten Lebensmittel wird sich erhöhen. Futuristen sprechen sogar von „stratosphärischem Gefrieren“ d. h. Gefrieren in Flugzeugen in zehn bis fünfzehn Kilometer Höhe. Versuche mit Superjets in den USA laufen schon.

Die Klassifizierung und Standardisierung wird besonders bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen stärker betont. Qualität und Preis sind besser vergleichbar, vorverpackte Ware wird gewissermaßen eine Qualitätsgarantie.

Hirschbraten im Vakuum

Auch heuer wieder bot die IKOFA eine Vielzahl von Neuheiten an. So gab es den Fruchtsaft als Konzentrat aus der Spraydose, den Leberkäs tiefkühlgefroren ebenso wie den vakuumverpackten Hirschbraten. Zu Weinbergschnecken wird die pikante Kräuterbutter bereits konserviert. Gewürzsoßen in Pulverform dagegen, obwohl ebenfalls als Neuheit angepriesen, bleiben da eher schon zurück. Um der Milchflut Herr zu werden, bot man auf der Theresien- höhe auch Sauermilchcocktails an. Das Bier soll die Familie in Hinkunft aus der Riesendose nehmen, dafür erhält sie den Slibowitz aus der1 Minipackung. Den Heißwurstauto- maten dagegen hätten viele Bayern, wie man hörte, lieber als Weißwurstautomaten gesehen.

Große Zahl von Sonderschauen

Daneben gab es noch Sonderschauen, Probleme und Randprobleme der Produktion und des Le- bensmittelhaindels wurden dabei behandelt.

Die Themen waren:

Ladenbau mit Fertigteilen.

Ladengestaltung nach Maß.

Computerdiagnose für den Le- bensmittelhandel.

„Aus deutschen Landen — frisch auf den Tisch“ und „Milchstraße“.

Damit von den angebotenen Wa- renmustern und Spezialitäten niemand irrtümlich etwas einsteckte, um es sich zur „Maß“ Bier auf der „Wiesn“ munden zu lassen, gab es auch noch gleich eine Sonderausstellung: „Verhütung von Ladendiebstählen“ mit praktischer Demonstration, wie man den „Selbstversorger“ fassen kann.

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