Black Panter Patriotic Youth - © Foto: Getty Images / Bev Grant

Identitäre Wende: Wie Identitätspolitik entstand

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Warum ist „Identität“ heute ein Kampfbegriff? Es ist an der Zeit, den Nährboden zu beleuchten, der zu neuen ideologischen Festungen geführt hat. Eine historische Analyse.

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Warum ist „Identität“ heute ein Kampfbegriff? Es ist an der Zeit, den Nährboden zu beleuchten, der zu neuen ideologischen Festungen geführt hat. Eine historische Analyse.

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Ein Gespenst geht um in der globalisierten „Intelligenzija“. Von rechts wird es mit Namen wie „Political Correctness“ oder „Cancel Culture“, in den internen Debatten der gespaltenen Linken mit „Regressive Linke“ oder „Successor Ideology“ beschworen. Hier ist eindeutig etwas am Werk, das überkommene politische Kategorien hinter sich gelassen hat. Das hätte spätestens dann klar sein müssen, als „Identität“ (früher unter den Begriffen „Nation“ oder „Heimat“) von einem eindeutig rechts-konservativen zu einem links-liberalen Kampfbegriff wurde.

Neue Strukturen zu erkennen, fällt im Moment ihrer Entstehung schwer – selbst wenn sie sich geradezu exhibitionistisch präsentieren: Wer in den Argumentationslinien der Neuen Rechten nicht das dunkle Spiegelbild linker Minderheitenpolitik erkennt, den hätte spätestens deren Namenswahl stutzig machen müssen: „Identitäre“. Neue soziale Strukturen werfen ihre Schatten im geistigen Überbau nicht voraus. Sie sind längst da, wenn sie beginnen, sich in Diskursen abzubilden. Deren Teilnehmer versuchen meist noch lange vergeblich, sie mit den sinnstiftenden Kategorien jener Ordnung zu beschreiben, die längst untergegangen ist.

Imaginäre Gemeinschaften

Auf der rechten Seite des politischen Spektrums waren Nationen, Völker, Kulturen noch Kollektive, denen eine unabhängige Existenz von den Individuen zugeschrieben wurde: Die Deutsche Nation existierte unabhängig von den individuellen Deutschen. Dementsprechend konnte man auch zum Renegaten werden und sich von seinem Kollektiv abspalten. Identitäten waren damals fluide: Aus dem österreichisch-ungarischen Schriftsteller Zsiga Salzmann konnte Felix Salten (1869–1945) werden. Gerade für die universalistische Linke war das 20. Jahrhundert aber in dieser Hinsicht eine ernüchternde Erfahrung. Den assimilierten Juden in Nazideutschland und den Afroamerikanern wurde durch Ariernachweis und die Ein-Tropfen-Regel („ein Tropfen afrikanischen Bluts genügt“) die Freiheit der Entscheidung über die eigene Identität dauerhaft und mörderisch genommen. So wurden auf dem Weg auf die linke Seite des politischen Spektrums aus den Eigenschaften eines Kollektivs die Eigenschaften eines Individuums.

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Eine weitere Verschiebung kam hinzu: Die alte Linke hätte städtische, gebildete Afroamerikaner in den Suburbs entlang ihrer Klassenzugehörigkeit mit WASP-College-Professoren politisch zusammengefasst, andererseits deklassierte schwarze „Nachbarschaften“ im Ghetto von Chicago mit verarmten Redneck-Bergarbeitern in West Virginia. Die „identitäre“ Wende der Neuen Linken hingegen schuf neue Kategorien entlang von Zuordnungen, die keinen Bezug zur sozioökonomischen Situation mehr haben. An die Stelle von Klassen traten „imaginäre Gemeinschaften“, die soziologisch und nach klassisch marxistischer Definition gänzlich ungeeignet sind, als sinnvolle Kategorien oder Keimzellen für sozialrevolutionäre Aktion zu fungieren. Sie sind aber bestens dazu geeignet, innerhalb der Bourgeoisie den Kampf um Prestige, Posten und Ressourcen zu führen. Gleichzeitig trug diese Politik dazu bei, das Proletariat in verfeindete Lager zu spalten.

Der Begriff der „Intersektionalität“ – ursprünglich dazu gedacht, Allianzen verschiedener benachteiligter Gruppen zu ermöglichen – ist ein typisches Beispiel dieses Atomisierungsprozesses: Wer weiblich, schwarz und lesbisch war, fand sich in einer immer kleinteiliger werdenden Welt immer in jeder Gruppe ausgegrenzt. Als Afroamerikanerin mochte man sich noch von Martin Luther King vertreten fühlen; nur der war homophob und hätte heute wohl ein Problem mit der „MeToo“-Bewegung. So wurde aus kollektivem Klassenkampf der individuelle Überlebenskampf gegen Diskriminierungen in der modernen Lebens- und vor allem Arbeitswelt.

Akademischer Konkurrenzkampf

Dieser Kampf wird folglich dort am gnadenlosesten ausgefochten, wo die Konkurrenz um knappe Ressourcen innerhalb der globalisierten Bourgeoisie am heftigsten tobt: in den traditionell unterfinanzierten Geisteswissenschaften an den Universitäten etwa – wo eine durch Elitenüberproduktion disproportional aufgeblähte Schicht von jungen Akademikern um begrenzte Posten, Projektgelder und akademisches Prestige ringt.

Wer weiblich, schwarz und lesbisch war, fand sich in einer immer kleinteiliger werdenden Welt immer ausgegrenzt.

Das kann auch nicht anders sein in einer soziopolitischen Ordnung, deren Basis der konkurrenzbasierte Individualismus unserer modernen Arbeitswelt ist. Den intellektuellen Kern bildet dabei immer noch der homo oeconomicus der neoklassischen Wirtschaftstheorie. Diese (rechte) Wirtschaftsphilosophie hat mit der neuen (linken) Gesellschaftstheorie nicht wenig gemein. In beiden verschwinden reale sozioökonomische Strukturen hinter dem Individuum; Gesellschaft als System ist nicht existent. In beiden wird die Last der Welt auf die Schultern des Individuums gelegt. Dieses trägt im sozialen Gefüge allein die Verantwortung für das eigene Schicksal. Unter dem Erfolgszwang eines Systems, in dem Misserfolg nur durch individuelles Versagen erklärbar scheint, ist die Angst groß, auch nur den geringsten Nachteil zu erleiden – andererseits aber auch die Versuchung, eigenes Versagen auf ein externes Unrecht zu projizieren.

Hexenjagden und Geißlerzüge

Reale Basis dieser individualistischen Ideologie, die zugleich eine extreme Ausprägung des Humanismus darstellt, ist der sozioökonomische Wandel von der kollektivistisch orientierten Ökonomie des klassischen Industriezeitalters zur individualisierten Arbeitswelt der globalisierten Dienstleistungsgesellschaft aus Callcentern und Großraumbüros. Diese erschuf eine wachsende globale Mittelschicht von meist College-gebildeten, urbanen „Anywheres“, deren gerade im Entstehen begriffene Kultur nach einer geeigneten Ideologie verlangt. Das links-liberale Segment des globalen Bürgertums – der eigentliche Hauptnutznießer der ökonomischen Globalisierung – hatte hier mehr existenziellen Rechtfertigungsbedarf als die rechten und konservativen Segmente, die ihre Privilegien ohnehin immer schon als angemessen ansahen.

Dazu bot die Identifizierung mit weiterhin diskriminierten Gruppen das ideale Vehikel, um den links-liberalen Traditionskern von „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“, der sich über die Straße nie verwirklichen ließ, ins neue Jahrtausend zu retten. Indem man in der eigenen Identität die Eigenschaften findet und sucht, für die andere diskriminiert werden, kann man das eigene humanistisch-klassenkämpferische Selbstbild aufrechterhalten. Was im Namen der Identitätspolitik abläuft, gleicht dabei frappierend historischem Zelotentum, Hexenjagden und Geißlerzügen, die zwar auch nichts an der Situation ändern konnten, den Teilnehmern aber das Gefühl der Ohnmacht erträglicher machten.

Statt Klassenkampf sind Multikulturalismus und Kulturrelativismus die neuen ideologischen Festungsmauern einer Elite, die sich im Belagerungszustand durch die Mehrheit ihrer Mitbürger wähnt. Unter diesen aber befindet sich paradoxerweise die tatsächlich bedrohte Mehrheit jener, gegen deren manifeste ökonomische Benachteiligung die alte Linke ankämpfte. Dementsprechend hat der arme und unterprivilegierte Paketzusteller, der sein Leben mit körperlicher Schwerstarbeit fristet, keinen Draht mehr nach links oben, weil er weder schwarz noch schwul noch weiblich ist.

Medien und Marktlogik

Die alte Linke gewann nie die Straße, weil sie weder Politik noch Ökonomie kontrollierte. Der neuen Linken blieb somit nur eine Zone, die sie aber heute umso mehr kontrolliert: die der öffentlichen Medien. Dort aber gibt es keinen realen (körperlichen) Kampf, sondern nur (sprachliche) Diskurse. Medial inszenierte Identitätspolitik ist daher eine adaptive Strategie des geistigen Überbaus, deren Vertreter sich im ökonomischen Überlebenskampf innerhalb eines meist urban-akademischen Umfeldes befinden – das wie praktisch alle anderen Gesellschaftsbereiche der Logik des modernen, kapitalistischen Marktes folgt. Und in diesem speziellen Markt kann das maximale Aufaddieren von realen oder scheinbaren Benachteiligungen ein entscheidender Wettbewerbsvorteil sein.

Ilja Steffelbauer ist Historiker und arbeitet an der Donau-Uni Krems, Khaled Hakami ist Kultur- und Sozialanthropologe an der Uni Wien.

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