Wer noch nie geflogen ist, neigt zu der Ansicht, daß das Faszinierendste am Fliegen der Blick nach unten ist — der Blick auf die Welt tief unten mit ihren winzigkleinen Häuschen und ameisenhaften Autos. In Wirklichkeit aber fällt dem routinierten Flugzeugpassagier nichts weniger ein, als sich den Hals zu verrenken, um dreitausend oder achttausend Meter unter sich die unterschiedlichen Feld- und Hügelarrangements in Braun und Grün an sich vorbeiziehen zu lassen. Selbst wenn der Flugkapitän über den Lautsprecher ansagt, daß nun zur linken Hand der Rheinfall zu sehen ist, löst das in
Die teuerste Erfindung der Welt war zweifellos das Schachspielt — das heißt, wenn wiir der Legende von Sissa Ibn Dahir und den Weizenkörnern trauen können. Der Name Sissa Ibn Dahir ist nur wenigen Menschen bekannt, und es ist auch mehr als zweifelhaft, ob dieser indische Weise wirklich gelebt hat oder nicht erst zugleich mit der Legende geboren wurde. Weit bekannter ist das verblüffende Rechenexempel mit den Weizenkörnern, das auf ihn zurückgeführt wird, und das die sogenannte „geometrische Progression“ veranschaulicht:Man legt auf das erste Feld eines Schachbrettes ein Weizen-
Noch vor wenigen Jahrzehnten gab es das Gegensatzpaar Kurzweil — Langeweile, das schon im Wort den dazugehörigen psychologischen Zeitablauf ausdrückte: der knappe Zweisilber „Kurzweil” stand dem endlos gähnenden Viersil- ber „Langeweile” gegenüber, der sich allenfalls auf eine dreisilbige „Langweile” zusammenpressen ließ, aber niemals bis zur allzu munteren „Langweil” schrumpfte.Die Kurzweil ihrerseits ließ sich weder in eine Kurzeweil noch gar in eine Kurzeweile dehnen, sondern machte denen, die sie trieben, die Weil so kurz wie möglich. Dennoch ist sie uns im Laufe
„Junggeselle“ — mit leisem Neid, Sehnsucht, etwas Reue und doch auch schon Verständnislosigkeit sprechen Ehemänner dieses Wort aus. Ein Junggeselle? Das ist doch dieses begnadete Geschöpf, das auf freier Wildbahn umhergaloppieren kann, bald am Neckar, bald am Main grasend, ungebunden, unverbindlich. Ein Junggeselle kann noch über Schwiegermutterwitze mit ungezwungener Herzlichkeit lachen. Er kann, wenn er Geld und entsprechendes Aussehen hat, die Begleiterinnen wechseln wie Hemden, indem er jeweils überlegt, welche wohl am besten zu dem Anzug paßt, den er heute zu tragen
Allmonatlich, zumindest aber alle halben Jahre, kann man in der Lokalchronik der Zeitung nachlesen, wie viele und vor allem welch unglaubliche Objekte im örtlichen Fundbüro abgegeben wurden. Und neben dem erhebenden Gefühl, daß man doch viel ehrlichere Mitmenschen hat als man normalerweise annimmt, macht sich eine noch tiefere Verwunderung über die verlorenen Gegenstände bemerkbar. Denn außer den Dutzenden und Hunderten von Regenschirmen, Aktenmappen, Brillen und Brieftaschen verzeichnet die Fundamtschronik stets noch eine Reihe höchst ungewöhnlicher Dinge und Lebewesen.Da werden
Der Mensch ist nicht mehr das Maß aller Dinge. Der Mensch ist anderthalb bis zwei Meter groß, er wiegt in der Regel hundert bis zweihundert Pfund (oder fünfzig bis hundert Kilogramm, je nach dem Breitegrad), er hat eine durchschnittliche Lebenserwartung von knapp siebzig Jahren, und aus der Steckdose in seiner Wohnung kommt Wechselstrom mit 220 Volt.Aber wer beschäftigt sich heute noch ernsthaft mit Metern, Kilogramm, Jahren und Volt? Das ist doch alles zu altmodisch — teils viel zu plump, unhandlich und zu groß, teils viel zu lächerlich und winzig. Wir streben nach den Megas, aber
Es war vor einigen Tagen. Ich knipste den Lichtschalter an, und es blieb dunkel. Vielleicht war irgendwo ein Leitungsschaden. Die Sicherungen waren jedenfalls nicht schuld, da ich die winzigen katzenaugengrünen Pünktchen alle unbeschädigt vorfand.Draußen war es unterdes schon sehr dunkel geworden, die Dächer der gegenüberliegenden Häuser zeichneten sich nur noch als schwarze Blöcke mit scharfen Kanten gegen den schwarzblauen Dämmerungshimmel ab. Ich beugte mich zum Fenster hinaus, besah mir die menschenleere Gasse, auf die das Licht der nächsten Straßenlaterne einen kreisrunden
Der Schlagerindustrie haben wir nicht nur die herrlichen Reime „signore — amore“ und „Milano — Cinzano“ zu verdanken, sondern auch so manche andere anmutige Verknüpfung fremdländischer Worte und mehr oder minder ausgefallener Eigennamen. Diese Tradition reicht weit zurück bis in jene zwanziger Jahre, wo die Schlagertexte zumeist noch wirklich witzig waren und wo man dichtete: „Was macht der Mayer — am Himalaja, der kleine Mayer — auf dem großen Himalaja ? und munter drauflos kalauerte: „In Langen- lois, in Langenlois — da tanzt die Zenz mit’m langen Lois.. Nicht zu
Darf ich, bitte, ehe der Aufschrei der Empörung losbricht, eine autobiographische Randbemerkung machen? Also: ich kann leidlich gut schwimmen und Tischtennis spielen, habe an zwei Skikursen teilgenommen, spiele zuweilen Tennis, habe Fechtunterricht gehabt, bin Schlittschuh gelaufen und kann radfahren. So — und nun meine These: Der Sport ist eine Zivilisationskrankheit.Der Sport ist — von gewissen Grenzfällen abgesehen — ein krankhafter Auswuchs des 20. Jahrhunderts. Die Antike kannte zwar Olympische Spiele, und im Mittelalter stachen die Ritter einander bei Turnieren von den Pferden,
Ueber ganz Mitteleuropa verstreut leben auch heute noch einige Halbwilde, die auf den ersten Blick zwar wie normale zivilisierte Menschen aussehen, aber bei ihrer Urlaubsreise keinen Photoapparat mitnehmen und sich solcherart eindeutig als auf einer niedrigeren Kulturstufe stehend erweisen. Daß man ihnen den Grenzübertritt überhaupt gestattet, ist wohl nur der demokratischen Toleranz und der Hilfsbereitschaft gegenüber minderentwickelten Völkern und Einzelpersonen zuzuschreiben, die fast ebenso ein Merkmal unserer Zeit ist wie die Kamera.Wer hingegen seinen Urlaub wirklich genießen und
Wir haben Uhren, Präzisionsuhren und Chronometer. Wir haben Stundenpläne, Fahrpläne und Fünfjahrespläne. Wir haben ganz genaue Zeit im Rundfunk, über das Telephon und an den Zifferblättern der ferngesteuerten Normaluhren. Trotzdem haben wir keine Zeit.Das ist erstaunlich. Denn es ist ja nicht nur so, daß wir dank der Präzisionsuhren und der Fahrpläne eine viel genauere Uebersicht über unseren Lebensablauf erhalten können, sondern wir raffen ja auch die Lebensäußerungen selbst so sehr wie nur irgend möglich zusammen. Konzentrate aller Art bestimmen in ständig noch zunehmendem
Glückwünsche können den Menschen in den mannigfaltigsten Lebenslagen ereilen. Zu bestimmten Zeiten verdichten sich die Kartensendungen, etwa an Geburtstagen. Auch zu gewissen Einzelereignissen brechen sie mit elementarer Wucht los: man denke nur an Promotionen und Eheschließungen.Während man aber alle diese Glückwunschkarten ein wenig steuern kann, je nachdem man das den Glückwünschen zugrunde liegende Ereignis stark publiziert oder möglichst bei sich behält, ist man gegenüber den Fröhlichen Weihnachten und das Glückliche neue Jahr machtlos. Wenn man überzeugt sein dürfte, daß
Reparaturen sind jene Vorgänge, die etwas wieder parat, bereit machen sollen: Wiederher- stellungs-, Ausbesserungsarbeiten. Bei unbelebten Gegenständen nennt man die Reparaturen häufig tatsächlich mit diesem Namen, wenn man nicht gerade von Service oder Ueberholung spricht. Beim Menschen hingegen fallen die Reparaturen vorwiegend in das Arbeitsgebiet der Medizin. Einen edlen Geist, der hier zerstört ist, versucht der Psychiater zu reparieren, einen von Geschwüren durchsetzten Zwölffingerdarm repariert der Chirurg und so weiter.Genau genommen sind Instandhaltung!- und
Eines Tages kommt die Ansichtskarte aus Alassio. Mit sehr viel blauem Meer und vielleicht auch einem Tintenpfeil, der in ein Hotelfenster hineinweist und den Vermerk trägt „Hier wohnen wir“. Zuweilen ist die Karte auch nicht aus Alassio, sondern aus Nizza, Dubrovnik, Rimini oder Salerno. Jedenfalls aber trägt sie außer der ausländischen Briefmarke einen Hauch von südlicher Sonne und Urlaubsfreude an sich.Sonst ist ja nicht viel daran: der Text beschränkt sich häufig auf die billigen fünf Grußworte, und selbst wenn er darüber hinausgeht, erfährt man wenig mehr, als daß das Meer
Pendeluhren sind eine aussterbende Uhrenrasse. Ueberlegen Sie doch einmal selbst: haben Sie im Laufe der letzten zehn Jahre eine Pendeluhr gekauft? Vermutlich nicht. Haben Sie eine Armbanduhr gekauft? Vermutlich ja. Dabei hat beides mit Kriegsverlusten etwa gleichviel zu tun: Armbanduhren ließen sich gegen eventuelle Zugriffe im Jahr 1945 sogar noch leichter schützen als Pendeluhren gegen Bombergeschwader.Was sich heute an Pendeluhren herumtreibt, ist daher größtenteils von ehrwürdigem Alter: es sind die Pendeluhren der Großelterngeneration, dezimiert durch natürlichen Verschleiß und
Wir leben in einer Zeit, die keine Zeit hat und an der das Erstaunlichste ist, daß die Fußballspiele immer noch 90 Minuten dauern und daß nach Super-Technicolor-Monster-3D-Filmen überlanger Spieldauer eine lebhafte Nachfrage zu bestehen scheint. Aber eben diese 90 Minuten oder zweieinhalb Stunden gewinnen wir teilweise durch die Konzentrierung unserer übrigen Lebensäußerungen und die raschere Abwicklung vieler Vorgänge.Der Personenzug ist für Persönlichkeiten, ja selbst für die meisten Personen, schon viel zu bummelig und auch der Schnellzug ist zu langsam geworden: D-Zug ist das