Der bosnische Schriftsteller Dževad Karahasan wurde am 12. Oktober in der Nationalbibliothek posthum mit dem Fritz-Csoklich-Demokratiepreis 2023 geehrt. Karl-Markus Gauß hielt die Laudatio. Wir bringen sie im Wortlaut.
Der belgische Konzeptkünstler Wim Delvoye hatte vor ein paar Jahren eine blendende Idee: Er kaufte ein paar Schweine, betäubte sie und ätzte ihnen exquisite Tätowierungen in die rosige Haut. Darum hört man es in den europäischen Villenvierteln neuerdings so wohlig grunzen, gehören die ulkigen Schweinderl inzwischen doch zur Standardausrüstung, über die verfügen muss, wer als echter Connaisseur moderner Gartenkunst überhaupt mitreden möchte. Das tätowierte Schwein kostet 150.000 Euro das Stück, und der Absatz ist reißend, sodass sich Delvoye, als er Schwierigkeiten mit dem
Schon die Römer kannten den Ort, der rund zehn Kilometer westlich ihrer Feste Lentia an der Donau lag. Auf einer Karte des Geografen Ptolemäus ist er jedenfalls unweit von Linz bereits eingezeichnet, eine der wenigen Ansiedlungen, die die Römer auf der linken Seite der Donau gründeten, vermutlich um es ausgerechnet hier mit dem Weinbau zu probieren.Seither waren eigentlich alle in Ottensheim. Die Nibelungen sowieso, die dort, wo heute die an einem gewaltigen Drahtseil hängende Fähre von Wilhering nach Ottensheim hinüberfährt, zauderten, über den wilden Strom zu setzen; die Prinzessin,
Vor ein paar Jahren erreichte uns die Nachricht, dass in den USA ein Verein für "Liebenswürdigkeitenideen" gegründet und von einem philanthropen Milliardär standesgemäß mit fünf Millionen Dollar jährlich dotiert wurde. Die Gründung war überfällig, denn in Zeiten, die immer unliebenswürdiger werden, musste es einmal soweit kommen, dass die Gesellschaft dem, was alle wollen, aber keiner mehr schafft, mittels einer straffen Kaderorganisation den gebührenden Platz in ihrer Mitte zurückerobert: der Liebenswürdigkeit.Wenn einer schon lange seinen Nachbarn bedauert, weil dessen Haus in
Vor einigen Jahren hat das IWC, das Internationale Walfang-Komitee, beschlossen, den Tschuktschen den Walfang zu verbieten. Dieses arktische Volk lebt im äußersten Osten Sibiriens zwar schon ein paar Tausend Jahre vom Walfang, der seinen Alltag, seine Kultur, ja seine Religion bestimmt. Aber nachdem internationale Flotten den Atlantik fast leergejagt und leergefischt haben, galt es ein starkes Zeichen der Umkehr zu setzen. Und gemaßregelt wurden ausgerechnet die Tschuktschen, die den Wal von ihren kleinen Booten aus mit Speeren und Harpunen erlegen.Schon seit 350 Jahren kämpfen die
Nur selten habe ich es bereut, dass ich damals, vor 30, 35 Jahren, als die angemessene Zeit dafür gewesen wäre, den Führerschein nicht erworben und dieses Versäumnis auch später nie wettgemacht habe. Natürlich, auch ich bin oft mit dem Auto unterwegs, als der beste Beifahrer aller Zeiten übrigens, in Österreich und anderswo. Dennoch, die Reise mit dem Zug habe ich, seitdem ich staunend zum ersten Mal den Zügen nachgeschaut habe, stets der mit dem Auto vorgezogen, aus Bequemlichkeit, sozialer Neugier, wegen des Blicks aus dem fahrenden Zug; ökologische Bedenken, ich gebe es zu,
Haben Sie schon mal mit einem Call-Center zu tun gehabt? Dann wissen Sie, was ich meine. Entweder man wird aus einem Call-Center angerufen und mit Informationen über Waren, Geschäfte, Transaktionen belästigt, die man gar nicht wollte; oder man landet, wenn man sich bei einem Unternehmen beschwert, in einem solchen Call-Center und wird das Anliegen, das man hat, nicht los. Man weiß natürlich, der Zorn auf die Dame am Telefon, die in ihrer Freundlichkeit absolut unerschütterlich bleibt, gilt der Falschen: Sie ist vermutlich eine gestresste Mutter von zwei Kindern, die nach ein paar Jahren
Der rumänische Politiker Varujan Pambuccian hat unlängst seinem Parlament einen interessanten Vorschlag unterbreitet: Jeder Rumäne, der sich anheischig macht, für ein politisches Amt zu kandidieren, müsse vorher einen Intelligenztest bestehen. Zwar habe ich gelegentlich den Eindruck, es wäre nachgerade ein Zeichen von Intelligenz, kein politisches Amt anzustreben, aber natürlich ist nichts Prinzipielles dagegen einzuwenden, wenn Abgeordnete oder Minister, in Rumänien oder sonst wo, über eine gewisse Grundausstattung an Intelligenz verfügen. Ob man diese tatsächlich messen kann und
Mein Gedächtnis hat Schwächen im Systematischen, Stärken im Assoziativen. Ich kann mir die Handlung eines Romans, den ich vor 20 Jahren regelrecht studiert habe, nicht mehr in Erinnerung rufen, aber ich weiß noch ganz genau, dass damals, als ich Dostojewskis "Dämonen" las, der Herbst ungewöhnlich schön war. Ich weiß, dass ich, von der Schilderung eiskalter russischer Nächte aufblickend, aus dem Fenster der Kellerwohnung in der Salzburger Vorstadt dem Kastanienbaum dabei zuschauen konnte, wie sich seine Blätter verfärbten. Und ich sehe wieder, wie meine Freundin, die später meine
Ehrlich gesagt, wussten Sie, was ein Caucus ist? Anfang des Jahres schloss sich eine meiner größten Bildungslücken, als ich erfuhr, dass damit ursprünglich eine Versammlung von Indianerhäuptlingen gemeint war. Heute hingegen wird so die erste Vorwahl zur Kür der amerikanischen Präsidentschaftskandidaten bezeichnet. Und da Iowa, wo der Caucus abgehalten wird, bekanntlich das geheime Zentrum der Welt ist, muss das auch jeden politisch aufgeklärten Menschen auf dem Erdenrund brennend interessieren. Muss es? Natürlich, denn ob ein Senator Huckabee über seine Mitbewerber obsiegt, von
Jetzt war also auch ich drüben, begeistert und befremdet, staunend und ratlos. Meine japanische Lesereise führte mich von Tokio ins Gebirge nach Nozawa Onsen, wo alljährlich die Germanisten tagen und in einer heißen Schwefelquelle baden, über Hiroshima nach Yamagucci, das mit seinem schier unendlichen Gewerbegebiet aussieht, als wäre das oberösterreichische Wels ausgewandert und endgültig wahnsinnig geworden, und schließlich nach Kagoshima: dort, im äußersten Süden, eignet selbst dem sonst so regelstrengen Japan etwas Levantinisches.Als ich vor meiner ersten Lesung in Tokio in den
Mit notorischer Verspätung lese ich einen Artikel, den ich vor längerem aus einer deutschen Zeitung gerissen habe, mit dem ansonsten zumeist gebrochenen Vorsatz, mich später näher mit ihm zu beschäftigen. Dieser Fall aber, der in der Bezirksstadt Douglas in Nebraska spielt, verdient wahrlich, bedacht und gewürdigt zu werden. Vor dem dortigen Bezirksgericht hat ein ehrwürdiger Provinzpolitiker namens Chambers nämlich Anzeige erstattet, und zwar nicht gegen irgendeinen Sittenstrolch oder einen bösen Nachbarn. Nein, sogar der Präsident der Republik, gemeinhin für den mächtigsten Mann
Ich lebe ja schon seit ewigen Zeiten in Salzburg, und mit den Jahren, in die ich von mir fast unbemerkt geraten bin, hat sich meiner das unbestimmte, aber drängende Gefühl bemächtigt, dass mir in meiner Heimatstadt irgendetwas abgeht. Aber was? Ganze Bücher der Selbsterforschung habe ich geschrieben und bin doch nicht dahintergekommen. Jetzt aber wurde mir Aufklärung beschieden. Was mir fehlte, war nichts anderes als ein großer "Männerspielplatz", wie er mit erheblichem Aufwand an Werbung und unter dem klandestinen Titel "Holo:deck männerwelten" letztens in Betrieb genommen wurde. An
Gegen Magengrippe lasse ich mir von meinem Hausarzt gerne einen Fernsehtag verschreiben. Nichts lenkt mich von Übelkeit und ziehendem Schmerz nämlich besser ab, als von früh bis spät durch die Kochsendungen zu zappen. Wer sich noch nie auf diese Weise kuriert hat, wird es nicht glauben, aber man findet von sechs Uhr früh bis lange nach Mitternacht immer einen Sender, in dem gerade Gemüse geschnitten, Fleisch gebraten und als Beilage eine Portion gut durchgekochter Lebenszuversicht serviert wird. Geht es in der einen Sendung fast schon volksbildnerisch zu, als müssten
Fortwährend kommen uns Menschen abhanden, und wir merken es gar nicht. Nur manchmal halten wir inne, schauen um uns und sehen, dass wieder viele fehlen. Nein, ich spreche nicht von den Toten, sondern von Menschen, die ihren gesellschaftlichen Untergang erfahren haben. Wo ist zum Beispiel das Fräulein hin verschwunden? Gewiss, es gibt noch Frauen, die man früher, weil sie ledig und jung sind, als Fräulein bezeichnet haben würde, und es gibt auch noch ältere oder alte Frauen, die all ihre Jahre niemals mit einem Mann zusammenleben. Aber ein Fräulein ist doch keine von ihnen.Der Stolz,
Einmal muss ich ihm doch ein Ehrenblatt widmen. Er saß in der Bankreihe vor mir, hieß zu seinem Unglück tatsächlich Philipp und hatte Schwierigkeiten, sich ruhig zu halten. Ausgerechnet das aber war damals, als ich stolz in die Volksschule kam, die erste Schülertugend: ruhig sitzen und dem Unterricht mit regloser Aufmerksamkeit folgen zu können.Also hatte der Zappelphilipp manches zu leiden. Er konnte die Beine einfach nicht unbewegt unter der Bank lassen, sondern wippte unentwegt auf und ab. Er musste, wenn er schon eine ganze schmerzhafte Stunde lang auf seinem Sessel zu sitzen hatte,
Nicht dass uns alles wurscht wäre. Keineswegs. Gar vieles gibt es, das uns stört, und manchmal habe ich das Gefühl, uns Österreichern missfalle an der Welt und an denen, die sie bevölkern, sogar mehr als anderen. Ist uns also auch nicht alles wurscht, wird doch vieles hierzulande Wurst. Im schönen Prägraten sind es jetzt sogar die Bergeshöhen geworden. Die Gemeinde in Osttirol hat damit zu kämpfen, dass die Touristen auch nicht mehr von selber kommen. Man muss ihnen schon etwas bieten, zum Beispiel ein gut ausgebautes Streckennetz für die Mountainbiker, die die Hänge hinabsausen
Wer weiß noch, dass Patras 2006 europäische Kulturhauptstadt war? Am Ende des vergangenen Jahres wussten es jedenfalls gerade nur siebzehn Prozent der Griechen selbst. So wenig sich die Politiker in Patras einfallen ließen, um ihre Stadt als kulturelle Metropole zu präsentieren, so folgenreich machten sie sich an deren urbane Verschönerung. Damit die Stadt in Glanz und Pracht erstrahle, haben sie binnen weniger Wochen die Siedlungen geschleift, in denen die Roma lebten, und die auf diese Weise obdachlos Gewordenen unter dem Beifall der Bevölkerungsmehrheit aus der Stadt verjagt. Es half
Auf dem ersten Video sind ein paar gut gelaunte amerikanische Soldaten zu sehen, die in Abu Ghraib irakische Gefangene wie Hunde an der Leine führen, sie zu sexuellen Handlungen nötigen und auf jede erdenkliche Weise quälen und demütigen. Das zweite Video zeigt drei Freistädter Schüler zwischen 13 und 16 Jahren, wie sie sich gerade dabei vergnügen, eine Zwölfjährige, die ihnen in ihrer Berauschung wehrlos ausgeliefert ist, zu missbrauchen.Die Bilder aus Abu Ghraib haben die Weltöffentlichkeit erschüttert und darüber belehrt, wie der Krieg im Irak geführt wird. Wir verdanken diese
Vor zwei Wochen starb in Boise im amerikanischen Bundesstaat Idaho hochbetagt ein Mann, dessen Namen kaum jemand kennt und der doch unser aller Leben verändert hat. Was hat dieser Robert Adler Bedeutendes geleistet, dass er nicht weniger als einen radikalen Kulturwandel bewirkte? Adler hatte 1956 eine kleine quadratische Schachtel mit vier Tasten konstruiert. Und indem man auf eine dieser Tasten drückte, konnte man auf dem Fernsehapparat mittels eines Signals aus Ultraschallwellen von einem Programm auf das nächste schalten. Die Fernbedienung war erfunden! Ich bin überzeugt, dass diese
Dänisch ist die Muttersprache von fast fünf Millionen Menschen und zählt trotzdem zu den bedrohten Sprachen Europas. Linguisten schätzen, dass es gerade noch 20 Jahre als Schrift-und Hochsprache tauglich bleibe, alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens zu erfassen. Dann wird es von der Kanzel in die Küche, aus den Büchern in die Dorfwirtshäuser übersiedelt und von der Bildungssprache zum heimeligen Dialekt verkommen sein.Schuld daran haben nicht die muselmanischen Zuwanderer, die ansonsten gerne aufgeboten werden, um vor den Gefahren zu warnen, die dänischer Identität und
Treue Leser dieser Glosse erinnern sich vielleicht, dass ich vor Jahresfrist vom Kampf der amerikanischen Gesundheitsbehörden gegen den inneren Feind, den fettleibigen Amerikaner berichtete. David Cameron, der oberste Leiter dieser Behörde, hatte im nationalen Sicherheitsrat geklagt, dass die Zahl der Wuchteln unter den jungen Männern im besten Gefechtsalter so rapide zunehme, dass sich schon bald keine Armee mehr aus ihnen zusammenstellen lassen werde. Die Drohung, dass man mit Fettwänsten keine Kriege führen könne, hat ihre Wirkung nicht verfehlt. Landesweit wurde so patriotisch
Letzte Woche hat mich das unberechenbare Schicksal durch halb Deutschland geschickt und in ganz verschiedenen Hotels nächtigen lassen. Außer der Lounge, in der ich immer gerne Platz nehme, in der Hoffnung, irgendetwas Interessantes zu beobachten, das nie eintritt, ist es der Frühstücksraum, der mich an Hotels am meisten fasziniert. Die Gäste im teuren Nobelhotel verhalten sich dort nicht anders als die in einer günstigen Herberge, die Urlauber, die sich auf den Besuch eines Museums freuen, gerade so wie die Vertreter, die sich auf ihr Geschäftstreffen vorbereiten.Weil das Frühstück im
Irgendjemand muss mich verleumdet haben. Zwar erhielt ich auch früher zahllose Spams auf meinem Computer. Spams - so es Glückliche gibt, deren Lebensführung sie davor bewahrt, solches wissen zu müssen - sind laut unserer maßgebenden Bildungsinstanz Wikipedia "unerwünschte, auf elektronischem Weg übermittelte Nachrichten, die dem Empfänger unverlangt zugestellt werden und werbenden Inhalt haben". Aber früher, als das Internet noch unschuldig war, wurde um mich nicht auf so ehrenrührige Weise wie heute geworben. Damals bekam ich jeden Tag meine vier, fünf Angebote amerikanischer
Als ich ihn das erste Mal sah, stand er auf dem Kopf. Es war Mitte der siebziger Jahre in einer Salzburger Galerie. Mehr als von den Bildern an den Wänden war ich von dem Mann fasziniert, der zwischen ihnen auf dem Kopf stand. Ich fragte, wer das sei, und ehrfürchtig wurde mir mitgeteilt, hier walte der Dichter Gerhard Amanshauser seines Amtes. Von dem hatte ich freilich schon einige Bücher gelesen, Satz und Gegensatz oder Ärgernisse eines Zauberers, Essaybände, in denen die bekannten Dinge aus einer ungewöhnlichen Perspektive erkundet wurden. Mir war daher sogleich klar, dass ich
Die Schönheit kann nur erfassen, wer begriffen hat, dass sie zweckfrei ist. Ich gebe es zu, mein Nachbar hat sich heuer ein Gerät angeschafft, das ich anfangs nicht recht zu würdigen wusste. Darum schaute ich hinter dem Vorhang meines Arbeitszimmers argwöhnisch in seinen Garten hinüber, von wo er verstohlen und triumphierend zugleich zu mir herauflugte. Seine Neuerwerbung sieht ein bisschen aus wie ein Staubsauger, aber sie saugt nicht, sondern bläst. Damit schreitet er täglich einmal auf dem Gehsteig die Grenze seines Grundstücks ab und mehrmals in der Woche in seinem Garten herum.
Kürzlich war ich in Istanbul. Meine Frau, die Kinder aus aller Welt unterrichtet und vermutlich als letzte Österreicherin daran festhalten wird, dass die Türkei Mitglied der eu werden solle, hatte sich diese Reise lange gewünscht. Am dritten Tag zogen wir im Stadtteil Beyoglu die lange Istiklal Caddesi entlang, an der an diesem Vormittag die ganze Türkei unterwegs schien: Mädchen in Miniröcken, misstrauische anatolische Bauern, bis auf einen schmalen Sehschlitz verschleierte Frauen, Punker beiderlei Geschlechts, Geschäftseuropäerinnen im Business-Kostüm, das Handy am Ohr ... Bei Nr.
Aus Columbia erreicht uns eine erschreckende Nachricht. Der oberste Leiter aller amerikanischen Gesundheitsbehörden, Richard Cameron, hat in einem Vortrag an der Universität von South Carolina eingestanden, dass der Krieg gegen den Terror für die usa nicht zu gewinnen sei; schlimmer, dass der böseste Feind bisher gar nicht erkannt und also auch nicht bekämpft worden ist. Der Terror von außen wäre nämlich harmlos im Vergleich zum "Terror im Inneren", der gegen die Gesundheit der amerikanischen Bevölkerung und die Zukunft der Nation wüte. Was ist geschehen? Hat bin Laden sein
Das Flugzeug hatte Verspätung gehabt, und ich war vom Hotel nur rasch ins Stadtzentrum geeilt, um irgendwo noch eine Kleinigkeit zu essen. Aber auf einmal wurde es enger und enger auf dem großen Platz. Tausende strömten aus den Gassen, wurden von den Nachdrängenden weitergeschoben, bis die Gläubigen den ganzen Rynek Glówny, den prächtigen Marktplatz mit der Marienkirche und den Tuchhallen, in ihren frommen Besitz genommen hatten. Es war der Abend des 2. April, um diese Stunde war vor einem Jahr Karol Wojtyla, der einstige Erzbischof von Krakau, in Rom gestorben. Ich schaute um mich: Da
Es war ihm nicht in die Wiege gelegt, Dichter und Historiker zu werden. Der Weg dorthin war weit und beschwerlich, aber Romedius ging ihn mit dem heiteren Sinne dessen, der wusste, dass er nicht nur für sich, sondern für viele zu sprechen hat. Als eines von elf Kindern eines Korbflechters und Besenbinders wuchs er in einer Baracke außerhalb des Dorfes Zams auf. Früh schon entzog er sich dem Regiment des groben Vaters, und was er von den Jenischen lernte, das erfuhr er von jenen Verwandten, die alle Jahre wieder ins Land zogen und in den Auen und an den Sandbänken des Inn ihre Zelte
Ich weiß nicht, wann es angefangen hat, seit einigen Jahren ist es jedenfalls erzblöder Brauch: Wo immer Sportler bei internationalen Wettkämpfen antreten, um zu ermitteln, wer von ihnen etwas am schnellsten, höchsten oder weitesten kann, wird dem, der es zuwegebrachte, flugs eine Fahne in die Hand gedrückt. Sie haben noch kaum durchgeatmet, schon hetzt sie jemand auf eine Ehrenrunde, mit der nicht sie, sondern Staat und Nation gefeiert werden, die sie mittels umgehängter oder geschwenkter Flagge repräsentieren. Gewiss, es gibt Schlimmeres als solch gezähmten Nationalismus, aber ein
Beim Durchschauen der Meldungen, die ich gewohnheitsmäßig aus Zeitungen herausreiße und ablege, um sie nach ein paar Monaten resignierend doch wegzuwerfen, entdecke ich manchmal Zusammenhänge, die ich vorher gar nicht zu sehen imstande war. So stieß ich auf eine Nachricht aus Indien, die mir auf merkwürdige Weise zu einer aus England zu passen schien.Auch in Indien, las ich, macht die Pränataldiagnostik so große Fortschritte, dass mittlerweile die meisten der gebildeten städtischen Inder wissen, ob ihre schwangere Frau einen Sohn oder eine Tochter von ihnen erwartet. Früher wurde das
Je weniger Slowenen es gibt, umso größer ist die Bedrohung, die von ihnen ausgeht. Es hätte der Volkstumskampf, der gegen sie geführt wird, also kein Ende, auch wenn in Kärnten überhaupt keine Slowenen mehr lebten. Denn der Slowene muss als halluzinierter Feind überleben, damit der Deutschkärntner weiß, wer er ist. Wer ist er? All die Perkonig und Ramusch, die Kuchlik und Tschabuschnigg, die sich bei den Geselligkeitsveranstaltungen des Kärntner Heimatdienstes gemeinsam davor fürchten, dass der finstere Slawe nach ihrer Heimat greife, tragen diesen in sich selbst. Ihre Namen wissen
Der slowenische Erzähler und Essayist kritisiert die Mächtigen, doch als Literat widmet er sich dem Leben, nicht der Politik.Drago Jancar * 1948SchriftstellerIn dem Roman "Luzifers Lächeln" schickte Drago Jancar 1993 sein alter Ego, den slowenischen Schriftsteller Gregor Gradnik, für ein Jahr an eine amerikanische Universität. Die Schwierigkeiten, in die der melancholische Held dabei gerät, beginnen schon bei der Einreise, weiß Gradnik den Beamten von der Flughafenbehörde doch nicht recht verständlich zu machen, wer er eigentlich sei. So wird er, der Angehörige einer der kleinen
Denke ich an den ungarischen Schriftsteller István Eörsi, sehe ich ihn vor mir, wie er in einem Salzburger Wirtshaus zur rasanten Musik einer pannonischen Kapelle mit so weltumarmender Geste und so seligem Blick zu tanzen beginnt, dass alsbald das ganze Wirtshaus mit ihm und um ihn herum tanzte. Das war im November 1991, und die Zeitschrift Literatur und Kritik hatte zu ihrem ersten Literaturfest eingeladen. Eörsi war damals gerade sechzig geworden, er hatte vier Jahre Gefängnis und ein Jahrzehnt Berufsverbot hinter sich. Aber als Märtyrer wollte er sich keineswegs geadelt sehen, und zum
Ich habe einen Freund, der an einem merkwürdigen Sprachleiden erkrankt ist, von dem er selber nichts weiß und das seine Persönlichkeit doch fast völlig bestimmt. In dem "Buch der Charaktere", das ich immer schreiben wollte, aber nie zuwegebringen werde, würde er als der "Eigentlich-Sager" firmieren. Fragt man ihn, wie es ihm gehe, antwortet er: "Eigentlich ganz gut." Wie es im Urlaub in Sardinien war, den man ihm im Herbst noch an der nur langsam schmelzenden Bräune seines melancholisch geschnittenen Gesichts anmerkt: "Eigentlich sehr schön."Das Besondere am Sprachleiden meines Freundes
Dankrede für den Vilenica-Literaturpreis.Der erste Slowene meines Lebens war ein halber Donauschwabe und ein halber Serbe. Mitte der sechziger Jahre stand er, ein baumstarker junger Mann mit verwegenem Bart, vor der Tür unserer Wohnung in Salzburg und schloss uns der Reihe nach in seine kräftigen Arme. Nandor Gauß war der Sohn des älteren Bruders meines Vaters, der 1938 in Palanka in der Batschka eine Serbin geheiratet hatte; nach dem Krieg hat diese Frau sich in zweiter Ehe einem Offizier der Jugoslawischen Volksbefreiungsarmee verbunden, der nach Ljubljana versetzt wurde. Mein um
Es war in Tours, der alten Stadt an der Loire. Wir hatten den Umweg gemacht, um die Kathedrale St. Gatien zu besichtigen, eine mächtige Basilika aus dem 13. bis 16. Jahrhundert, berühmt für die Glasfenster, aus denen die Wände des Hauptschiffes fast vollständig bestehen und die die düstere Kirche in ein überirdisches Licht tauchen.Wir saßen, stumm und staunend, schon eine Weile, als ich ein merkwürdiges Schlürfen vernahm. Neben mir hatte, wie ich jetzt bemerkte, eine reizende Dame von bald achtzig Jahren Platz genommen, die nach Manier der heutigen Reisenden in kurze Hosen und
Über Markus Lüpertz und seinen Rang in der neueren Kunstgeschichte zu befinden, steht mir nicht zu, dafür kenne ich diese zu schlecht und interessiert mich jener zu wenig. Aber ich verdanke ihm doch ein paar Einsichten, die ich nicht missen möchte.Das Langweilige an Lüpertz sind offenbar seine Kunstwerke, das Spannende die Strategien, mit denen er davon abzulenken weiß. Huch, das neue Mozart-Denkmal, das seit ein paar Wochen vor der Salzburger Ursulinenkirche steht, deutet Mozart als Frau! Hat zwar keinen Sinn, aber warum soll es auch einen haben? Interessanter schon, dass die Frau ein
Warum ich so gerne Tagebücher lese? Vielleicht weil es mich ermutigt, anderen dabei zuzusehen, wie sie sich mit täglichem Fleiß gegen die Tyrannei der Vergänglichkeit zu behaupten wissen. Die "Notenbücher des Herzens" (Hebbel), in denen berühmte und unbekannte Autoren sich als "Meteorologen des Selbst" (Rousseau) betätigen, erstrecken sich im Regal mittlerweile auf sechs Meter, und ein Ende ist nicht abzusehen, denn Tagebücher scheinen den starken Willen zu haben, auch ohne mein Zutun ihren Weg zu mir zu finden.Vor einigen Jahren habe ich, der leidenschaftliche Leser von Journalen,
Ein Haudegen, der sichtlich darauf hält, nicht wie ein langweiliger Stratege am Schreibtisch zu wirken. Zwei Bilderfolgen sind von Ratko Mladic um die Welt gegangen. In der einen ist er zu sehen, wie er bosnischen Muslimen aufmunternd das Haupt tätschelt, ehe diese, in Busse verfrachtet, ein paar Kilometer weit ins Gelände hinaus gefahren wurden. Dort, unweit der Stadt Srebrenica, die die uno zur Schutzzone erklärt hatte und in die deswegen Tausende geflüchtet waren, wurden sie allesamt massakriert. Der General, der sie mit einem Tätscheln in den Tod schickte, schaut auf diesen Bildern
Ich hatte gar nicht gewusst, wie wenig ich von Hitler wusste. Ja, ich ahnte nicht einmal, dass ich das alles wissen musste, was ich mittlerweile weiß. Dass er dämonisch und ganz normal war, ein Irrer mit flackerndem Blick und ein galanter Herr, fürsorgendes Monster, gnadenloser Liebhaber, zärtlicher Massenmörder. Dass er selbst seinen Getreuen der ersten Stunde misstraute, von einigen seiner gehorsamsten Gefolgsmänner verraten wurde und nicht erst am Ende in undurchdringliche Einsamkeit entrückt war.Aber jetzt durchschaue ich ihn, denn ich habe ihn als zitternden Feigling gesehen, der
Aus Florida, dem Paradies der amerikanischen Senioren, erreicht uns die Nachricht, dass dort am 5. April ein Mann aus Respekt hingerichtet worden ist. In den usa werden die Todesurteile bekanntlich auf doppelt humane Weise vollzogen, insoferne erstens dem Delinquenten, so sehr er sich auch einen grausameren verdient hätte, der sanfte Tod mittels lähmender Giftspritze gewährt wird; und dass zweitens bei seinen letzten Zuckungen die Hinterbliebenen seines Mordopfers zugegen sein dürfen, die als Zeugen seiner Todesangst und seines Todeskampfes endlich in jenen heiligen Frieden zurückfinden
Ich kenne Leute, die glauben zwar nicht mehr an Gott, aber an den Teufel. Theologisch ist das wahrscheinlich Unsinn, aber manchmal möchte ich ihnen darin trotzdem nicht widersprechen. Vor zwei Jahren erhielt ich eine E-Mail des von mir sehr geschätzten Vorarlberger Dichters Wolfgang Hermann. Nach meiner Gewohnheit habe ich die Nachricht auf Papier ausgedruckt und dann aus dem Computer gelöscht. Mittlerweile ist dieser Computer längst auf die Größe einer Streichholzschachtel zerdrückt, denn rasch, wie sich die Dinge in dieser Branche entwickeln, habe ich mir einen neuen anschaffen
Keiner schämt sich der Untaten, denen er seinen Rang verdankt, aber doch der abstehenden Ohren, die er von seinen Eltern hat.Tatsächlich ist der Beschämung, gleich welchem Versagen sie gilt, immer eine körperliche Komponente beigegeben. Wie wir die Beschämung körperlich erfahren, indem wir erröten, den Blick zu Boden senken, unruhig mit den Füßen zu scharren beginnen, in der stickigen Luft der guten Gesellschaft nicht mehr atmen zu können glauben, so hat sie auch eher in etwas Körperlichem ihren Anlass als in Geistigem, Moralischem, Charakterlichem.Sich in einer Situation durch
Gespräche in der östlichsten Stadt der Europäischen Union über die Tristesse der russischen Minderheit in Estland.Was tun in einer fremden Stadt, wenn man in einer Winternacht eintrifft und das einzige Hotel geschlossen hat? Nun, man sucht die belebten Viertel zu finden, in der Hoffnung, dort die Nacht eher zu überleben, und gerät dann doch in die finsteren, wo sich alle möglichen Leute hilfreich zeigen, daß es einem wider Erwarten tatsächlich gelingt. Von den Ansiedlungen auf Zypern abgesehen, das die innere Landkarte der allermeisten Europäer allerdings als Insel im Süden, nicht
Als ich kürzlich in der Bundeshauptstadt eintraf, bestieg ich gleich am Westbahnhof ein Taxi, in der trügerischen Hoffnung, mit ihm rascher als zu Fuß zum Café Ritter in der Mariahilfer Straße zu kommen. Der Taxilenker war ein massiger Herr um die sechzig, der an Kurzatmigkeit litt, und hatte, wie sich das früher gehörte, eine Fahrermütze auf dem Haupt. Bei den Taxifahrern gibt es bekanntlich die Schweiger und die Erzähler, mir sind beide recht. Dieser war ein Schweiger und so beobachteten wir beide stumm, wie die Fußgänger uns nach ein paar Metern, die wir gefahren waren, immer
Im Advent habe ich einen alten Mann weinen gesehen. Derlei kommt in der Öffentlichkeit nicht gerade häufig vor. Aber dieser Achtzigjährige schluchzte so heftig, dass man nicht einfach nicht hinsehen konnte. Es war in der Praxis eines Facharztes für Orthopädie, und wir saßen zu siebt, ein jeder auf seine Weise verkrümmt, im Wartezimmer. Wir ärgerten uns, dass es zwar Friseure, Bankberater, Kosmetikerinnen zusammenbringen, ihre vereinbarten Termine zu halten, man beim Arzt, wenn man pünktlich eintrifft, aber immer sechs andere Pünktliche vorfindet, die vor einem dran sind. Da brachte
Ich kannte eine alte Frau, die gerne sang. Es wäre übertrieben zu sagen, dass sie immerzu sang, aber ich glaube, den halben Tag lang doch: Leise, für sich, gerade so, dass man es noch hörte, wenn man sich im Nebenzimmer aufhielt oder vor den geöffneten Fenstern ihrer Wohnung vorbeiging. Sie hatte keine ausgebildete Stimme und auch nur ein durchschnittliches Gehör. Aber sie kannte unzählige Lieder, für jede Stimmung und jede Gelegenheit ein paar. Sie sang, weil ihr das Arbeiten mehr Freude machte, wenn sie dazu eine Arie aus einer Oper summte. Oder weil sie sich an ein Lied erinnerte,
Muss man seine Feinde lieben? Darf man ihnen Böses wünschen?Als die Bilder vom stürzenden Fidel Castro um die Welt gingen, hat sich zu diesem Thema eine bekennende Christin aus Spanien zu Wort gemeldet. Loyola de Palacio ließ verlauten, sie wünsche dem greisen Patienten, dessen Kniescheibe zertrümmert wurde, nicht gute Besserung, sondern dass er möglichst bald sterbe. Nun könnte man diese so armselig auftrumpfende Bekundung des Hasses als private Marotte einer wer weiß warum verbitterten Person übergehen, die nur eben nicht am Knie, sondern in der Seele verwundet ist und unser
Nein, keine Sorge, ich werde hier nicht über Georg W. Bush schreiben. Über ihn ist genug geschrieben worden, und wenn die Literatur, die Schrift, überhaupt noch etwas vermöchten, dann wäre es schon bald gar nicht mehr nötig, über ihn, seine guten Geschäfte mit schlechten Gesellen, über seine Dummheit, die ziemlich schlau ist, und über das ganze Desaster seiner Regierungstätigkeit noch weitere Zeilen zu verschwenden. Auch gehöre ich nicht zu jenen wie Michael Moore, die uns glauben machen, dieser Präsident sei nur eine Art Betriebsunfall der amerikanischen Demokratie gewesen und
Groß ist der Hunger in der Welt, doch größer der Appetit, seinen Wohlstand karitativ zu genießen. Viel zu viele leben in Armut, doch springen ihnen gerne jene bei, die es hungert, um der guten Sache willen zu völlern. Deren soziale Herz- und Magensache heißt Charity, eine Veranstaltung, die den sozialen Gegensatz mittels Haubenköchen überwinden möchte. Salzburg im Sommer, das ist nicht nur hohe Kunst und niederer Kommerz, die ohnehin keiner mehr auseinander zu halten weiß, nicht nur Adel von Geld und Geblüt, der für das Fernsehen Parade hält; das sind auch nicht nur die Sponsoren
Das Glück hat mir einen Maler zum Freund beschieden, der ein Haus auf Patmos besitzt, welches er diesen Sommer mir und den Meinen für ein paar Wochen überließ. Das Haus liegt gleich unterhalb des berühmten orthodoxen Klosters, das dem heiligen Johannes geweiht ist und die griechische Insel als über die Jahrhunderte niemals eingenommene Festung überragt.Die türkischen Muselmanen haben sich, als sie das Kloster nicht erobern konnten, damit begnügt, diesem einen milden Tribut für die Insel aufzuerlegen; die katholischen Venezianer hingegen brannten 1659 alle Dörfer nieder,
Ich weiß, man sieht es mir heute nicht mehr an, aber bis zu meinem 17. Jahr war Fussball mein Leben. Meine alte Mutter bekommt heute noch Tränen, wenn sie erzählt, dass ich damals, als ich mit 13 an Tuberkulose erkrankte und immer schwächer wurde, von ihr erbat, am Mittelkreis des Union-Fussballplatzes begraben zu werden, dort, wo der Anstoss vorgenommen wird, der so oft mein Amt als Mittelstürmer der Jugendmannschaft war. Später, wieder gesundet, wurde ich einmal sogar auf ein Trainingslager eingeladen, in dem Nachwuchskicker aus ganz Österreich zusammentrafen und ein paar Tage von dem
Kürzlich wurde ich vom Fernsehen über einen merkwürdigen französischen Neurologen unterrichtet. Der telegene Mann hat es mit Patienten zu tun, die durch Folterungen, Kriegserlebnisse, Verfolgung schwer traumatisiert wurden und immer neu jene Schrecken durchleben müssen, denen sie zu entrinnen hofften, indem sie ins Exil gingen. Das Leid, das ihnen zugefügt wurde, werden sie jedoch nicht mehr los, wohin immer sie aufbrechen, folgt es ihnen getreulich als Schatten, der zu ihnen gehört. Die Begabung des Menschen, sich zu erinnern, lastet auf ihnen als Fluch, das einmal Erlittene stets
Kürzlich musste ich mit dem Zug von Salzburg nach Wien und betrat, einer schlechten Gewohnheit folgend, gleich den Speisewagen. Bis Wels konnte ich in dem mitgenommenen Buch lesen, dann stiegen zwei Männer um die vierzig zu und nahmen am Nebentisch Platz. Der eine hatte auf Stirn und Nase grindig verschorfende Wunden, die von einem Sturz, vielleicht aber auch von einer Schlägerei herrühren mochten; der andere befand sich bereits am Vormittag in einem Rausch, aus dem er womöglich schon seit ein paar Jahren nicht mehr herauszufinden wusste. Die Geschäftsleute und all die anderen
Durch eigenes Verschulden habe ich mir in den letzten drei Monaten eine Lebensweise aufzwingen lassen, die mir denkbar unangemessen ist und mich nötigte, viel mit dem Flugzeug unterwegs zu sein, nur um irgendwo in Europa rechtzeitig zu diversen Konferenzen, Tagungen, Symposien einzutreffen.Immerhin eines habe ich in dieser Zeit der Selbstentfremdung aber studieren können: den internationalen Großflughafen als einen für unsere Epoche repräsentativen Ort. Genau gesagt, ist der Großflughafen gar kein Ort, sondern der wahre Unort auf Erden, die Negation einer Stätte, an der ein Mensch sich
Im medialen Prozess der fortwährenden Überbietung des Blöden mit dem Blöderen, des Grausamen mit dem Grausameren drohen wir zu ertauben. Das Ungeheuerliche noch als ungeheuerlich zu erkennen, ist eine Fähigkeit, die Not tut, aber keinem von uns mehr einfach gegeben ist. Im akustischen Dauerbeschuss zu hören, was eigentlich gesagt, zu erkennen, was gezeigt, nachzufühlen, was uns vom Leben anderer Menschen enthüllt wird, ist nicht leicht, zumal wir darin eingeübt wurden, zwar von der sensationellen Meldung fasziniert zu sein, uns aber zugleich dem zu verschließen, was sie bedeutet.Da
In den schrecklichen Zeiten, aus denen wir kommen, galt es die Macht des Todes über unser armseliges Leben zu begrenzen. Brautleute, die vor den Altar traten, mussten dem Geistlichen schwören, dass sie einander treu bleiben werden, "bis dass der Tod euch scheidet", was mitunter eine nicht unerhebliche Einschränkung darstellte. In den prächtigen Zeiten, in die wir gehen, wird der Tod technologisch Schritt für Schritt abgeschafft. Es ist freilich anzunehmen, dass damit seine Macht keineswegs gebrochen, sondern vielmehr die Grenze zwischen Tod und Leben aufgehoben wird, dass also nicht der
Nein, keine Sorge, ich werde nicht über das Kopftuch sprechen, und ob es nach unseren Großmüttern jetzt auch jungen Frauen erlaubt sein soll, eines zu tragen. Diese Frage ist komplexer, als ich hier tue, aber auch eine andere Kopfbedeckung hat es durchaus in sich. Oder besser auf sich, denn man trägt die Baseballkappe ja nicht im, sondern auf dem Kopf. Obwohl, nicht einmal da bin ich mir sicher. Wie es in Österreich einen Typus gibt, dem man gerne einen inneren Gamsbart zusprechen möchte, so scheint auch das Tragen einer Baseballkappe nicht nur eine Äußerlichkeit zu sein.Immerhin
Martyrologisch würden diese Geschenke ja eher zu Ostern passen. Aber die richtig großzügigen Geschenke werden eben immer noch zu Weihnachten gemacht; außerdem können viele, die sich auf die Schlachtbänke der Schönheitschirurgie drängen, nicht mehr bis Ostern warten. Der Busen der 18-Jährigen muss unverzüglich mit Silikon auf jenes Maß gebracht werden, von dem sie in der Fernsehserie gelernt hat, dass es den feschen und reichen Männern gefällt, sonst bringt sie sich noch vor der Matura um; und die Falten der 48-Jährigen bedürfen der sofortigen Kur mit Spritze und Messer, sonst
Die letzten zwei Jahre waren nicht leicht für mich. Ein Freund nach dem anderen hat mich zu seinem 50. Geburtstag eingeladen. Es waren launige, meist von der Gästezahl her unüblich groß dimensionierte Feste, bei denen manchen der Eingeladenen ein lindes Erschrecken im Gesicht stand. Und einzelne Gäste, der guten Speisen überdrüssig und des edlen Weines voll, einander zuraunten, sie jedenfalls würden, wenn es bei ihnen so weit wäre, irgendwo unerkannt in einem französischen Bistro sitzen oder auf einer griechischen Insel und sich keineswegs den Freunden, dem Tag, der Einsicht ins
Keine Sorge, ich will nicht über das Kopftuch als Anschlag auf die abendländische Kultur sprechen, sondern nur von ein paar Dingen erzählen, die mir kürzlich im erzkatholischen Litauen aufgefallen sind.Der erste Spaziergang durch Vilnius führte mich zu einem Markt, an dem Frauen standen, die nur anzubieten hatten, was sie in ihrer Handtasche mit sich führten: Kartoffel, Kräuter, Pilze. Die Bäuerinnen, die sich bei jedem Glockenschlag aus einer der unzähligen Kirchen bekreuzigten, waren zwischen 20 und 80 und trugen alle Kopftücher, bunte die jungen, helle die mittleren, dunkle die
Die populärste Form, Öffentlichkeit zu simulieren, ist im medialen Zeitalter gewiss die Talk-Show. Die tägliche Beichte, abgenommen vor Kamera und Mikrofon, mit einem Talkmaster als enthemmtem Beichtvater, verbindet Millionen, ohne ihnen eine andere Gemeinschaft als die von Konsumenten desselben Programms zu gewähren. Wo die Beichte im Fernsehen organisiert wird, dort geht den sonst Sprachlosen zuverlässig der Mund vor intimen Bekenntnissen über. Es ist freilich ein Signum der Epoche, dass die Leute gerade dort, wo sie ihr Innerstes preizugeben glauben, den anderen zum Verwechseln
Ich habe einen älteren Freund, dem ist infolge einer schweren Erkrankung der Geruchssinn abhanden gekommen. Nun erzählt er mir gerne von den Gerüchen, die er einst wahrgenommen hat, und indem er es tut, schärft er mir die Sinne für all das, was er nicht mehr riechen kann. Von allen Sinnen des Menschen ist es der Geruchssinn, der ihn am stärksten mit seiner Vergangenheit verbindet. Ein Strauch, in dessen Schatten wir als Kind gespielt, eine Speise, die wir lange nicht mehr gegessen, ein Haus, das wir eine Ewigkeit nicht mehr betreten haben - all das und mehr kann uns, wenn wir es wieder
In den großen Zeitungen des Landes wurde die Nachricht von seinem Tod nicht vermeldet. Kein Wunder, Armin A. Wallas war ein bedeutender Gelehrter, aber unfähig wie unwillig, mit seinem Wissen rhetorisch zu prunken.Bewundernswert zäh hat er stattdessen sein Lebensprojekt verfolgt: die jüdische Literatur Österreichs aus der Vergessenheit zu heben. Jetzt ist er vorzeitig mit 41 Jahren gestorben, am Mittelmeer, wo er so oft Linderung seines Leidens suchte und den grausamen Tod des Asthmatikers erlitt.Ich weiß, das Wort Gelehrter hat einen altertümlichen Klang und scheint einen historisch
Auf ihrem Treffen im griechischen Porto Karras haben die Politiker der EU beschlossen, dass die europäischen Ausweise in den nächsten Jahren mit sogenannten biometrischen Daten ausgestattet werden. Darunter versteht man Merkmale - wie den Fingerabdruck oder das Irismuster des Auges -, die so spezifisch sind, dass darin kein Mensch dem anderen vollständig gleicht. In der ganzen Weltpopulation mit ihren sechs Milliarden Individuen gibt es keine zwei, deren Irismuster, also die Fächerung des Gewebes um die Pupille, sie nicht voneinander unterscheiden ließe.Wer nun meint, angesichts dieses
Geschieht eigentlich zu viel oder tut sich ohnehin nichts? Ich meine weltpolitisch. Sozial. Wissenschaftlich. Ökonomisch. Mit der Umwelt und so. Eigentlich hatte ich geglaubt, wir lebten in dramatischen Zeiten. Sie wissen schon, der Krieg im Irak und seine Folgen für die neue Weltordnung. Die Pensionsreform und ihre Auswirkungen auf die Streiksekunden. Die Stammzellenforschung und die Veränderung unseres Menschenbildes. Und erst die Schuldenkrise, das Ozonloch... Aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher, ich habe nämlich jeden Tag die Abendnachrichten angeschaut.Einmal war ein langer
Über die Pension und ihre notwendige Reformierung hört man in letzter Zeit mancherlei. Nicht alles aber leuchtet so unmittelbar ein wie der Vorschlag, den der Wirtschaftswissenschafter Erich Streissler am Wochenende in der Presse gemacht hat. Während die Weicheier der Reform und die Betonköpfe von Gegnern sich noch darüber ereifern, ob man zwei oder drei Jahre später in Frühpension gehen solle, legt Streissler das Alter, das die Österreicher berechtigen wird, ihre Pension zu beziehen, mit der Autorität des leidenschaftslosen Gelehrten definitiv auf achtzig fest.Die Streisslersche
"Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute." So endeten früher die Märchen. Die heutigen aber gehen anders. Die California Cryobank ist die größte amerikanische Samenbank. In ihren Tiefkühltruhen schläft mittlerweile die Population einer Großstadt, die noch nicht gegründet ist und die man Death City oder Life Town nennen wird, je nachdem.Ihren Samen in der California Cryobank deponiert haben junge und alte Herren, solche, die sich für besonders schön halten, andere, denen hingegen ihre Intelligenz aufhebenswürdig erscheint, und schließlich welche, die ganz
Vor einiger Zeit war ich staunend im Osten der Slowakei unterwegs. Wie viele Völker dort leben, zwischen Poprad, das die Deutschen früher Deutschendorf nannten, und Kosice, das den Ungarn Kassa, den Deutschen Kaschau war! Ich traf nicht nur auf die sogenannten Karpathendeutschen, die zu besuchen ich ursprünglich in jenes Gebiet gekommen war, das sie selber die Zips nennen, die Ungarn Szepes nannten und das slowakisch heute amtlich Spis heißt. Nein, da fanden sich auch Polen und Goralen, worunter eine den Polen eng verwandte Gruppe zu verstehen ist, die aber auf gewisse Eigenheiten in