Der Gesunde benötige, selbst wenn er sich einmal nicht ganz wohl fühlt, keine Medikamente. Mit kleineren Unpäßlichkeiten werde der Organismus in der Regel selbst fertig. Allerdings setze das einen gewissen Lernprozeß voraus. Denn wer bei Kopfschmerzen einmal zur Pille gegriffen hat, würde es immer wieder tun, wenn er es nicht gelernt habe, mit vorübergehenden Schmerzen zu leben. Mit dieser Warnung wandte sich Professor H. E. Bock (Tübingen) bei der Eröffnung der diesjährigen Karlsruher Therapiewoche gegen die in unseren Tagen weitverbreitete Unsitte, bei jeder kleinsten
Krankheit wird längst nicht mehr-wie in vergangenen Jahrhunderten -als Schicksal verstanden. Sie wird heute vielmehr als „Betriebsstörung“ empfunden, die . möglichst rasch durch ärztliche Maßnahmen behoben werden muß. Wer kann es sich noch leisten, länger auf die Erwerbsund Genußfähigkeit zu verzichten? Viele Menschen erwarten daher vom Sozialstaat den „totalen medizinischen Service“.Wer dies ernsthaft fordert, verkennt die Möglichkeiten und Grenzen der Medizin unserer Tage. Die „therapeutische Überaktivität“ ist zu einem vordinglichen gesundheitspolitischen Problem