Was sich derzeit in der Sowjetunion abspielt, ist wahrscheinlich das Vorspiel zu einer allgemeinen Radikalisierung des Kurses — den als erste die oppositionellen Intellektuellen zu spüren bekommen. Der zentrale Schlag der Sowjetbürokratie and Polizei richtet sich derzeit gegen den Samisdat — Rußlands verbotene Schriften- und Literaturredaktion — und gegen alle, die mit ihm zusammengearbeitet haben.
In den sechziger Jahren ließen sich in der Sowjetunion Konflikte und Spannungen beobachten, die aus mehreren Gründen Beachtung verdienen. Nach Stalins Tod waren es Schriftsteller und Künstler — teils wie Ilja Ehrenburg der älteren Generation angehörend, doch überwiegend jüngere Menschen —, die im Gefolge des bekannten „Tauwetters“ nach dem XX. Parteitag (1956) forderten, einen Schlußstrich unter die terroristischen Ausschreitungen, die rechtlichen Knebelungen und kulturellen Zensurmaßnahmen der Jahre des Stalinismus zu ziehen.
Die Maßnahmen gegen die Geheimpolizei, in deren Verlauf auch einige der Hauptschuldigen für den Terror hingerichtet wurden, die posthume Rehabilitierung vieler unschuldig Liquidierter, die Freilassung von Konzentrationslagcrinsassen — diese, allerdings unvollständige Abrechnung mit der Vergangenheit rief weitere Erwartungen und Hoffnungen wach.
Weil die sowjetischen Schriftsteller Andrej Sinjawski und Julij Daniel ihre literarischen Werke im westlichen Ausland erscheinen ließen, wurden sie 1966 wegen „antisowjetischer Propaganda“ zu sieben beziehungsweise fünf Jahren Arbeitslager verurteilt. Seit Mitte 1972 befinden sie sich wieder in Freiheit. Berichte über ihre Lagerjahre gelangten kürzlich in den Westen.
Migrationen sind volkswirtschaftlich ein Faktum von großer Bedeutsamkeit, da eine effektive Nutzung der in einem Land vorhandenen Arbeitskraftreserven unter anderem wesentlich von der territorialen Verteilung dieser Reserven abhängt. Das gesamte Migrationsvolumen in der Sowjetunion ist ziemlich hoch. Im Jahre 1967 zum Beispiel wanderten 5,5 Millionen Menschen von Stadt zu Stadt, 3,1 Millionen zogen vom Land in die Städte. 1,5 Millionen wechselten von Städten aufs Land und einige Millionen übersiedelten innerhalb ländlicher Regionen. Das Ausmaß der Migrationen in einem Zeitraum von nur einem Jahr übersteigt also weit die Zehnmillionengrenze.
„Der Kampf an der Erntefront“ ist Jahr für Jahr eines der Hauptthemen der sowjetischen Presse. In den letzten beiden Jahren, 1971 und 1972, war die Lage an der Erntefront besonders düster. Die sowjetische Landwirtschaft mußte zwei katastrophale Mißernten hinnehmen, die vor allem klimatisch bedingt waren: relativ warme, aber schneearme Winter ließen das Wintere getreide erfrieren, monatelange Dürre im Sommer vernichtete zusätzlich große Teile der Ernte.
Sibiriens Geschichte ist eigenartig. Das weite Land vom Ural bis zum Stillen Ozean trat ins Licht der Geschichte, als der Moskauer Kaufmann Stroganoff 1581 eine Kosakenexpedition unter dem Anführer Jermak zur Erforschung Sibiriens ausrüstete. Die „Erforschung“ oder Eroberung dauerte 67 Jahre und erfolgte in bewährter Kolonialmanier: von den an die 100 turk-tatarischen und mongolischen Völkerschaften, die Sibirien bewohnten, wurden die meisten ausgerottet. Heute zählen die Ureinwohner knapp eine Million, bestehend aus 24 Stämmen.
Eine der wichtigsten und sehr genau eingehaltenen Maximen des sowjetischen Lehens lautet: „Sei wie alle anderen, fall nur nicht auf.“ Die ziemlich lückenlose Befolgung dieses ungeschriebenen Gesetzes ruft beim westlichen Ausländer oft den Eindruck grauer Eintönigkeit und Uniformität des sowjetischen Alltags hervor.
Moskau entstand rund um den Kreml. Ausgangspunkt und Zentrum von Macht und Schönheit der Stadt, zieht der Kreml sich gleichzeitig aus ihr zurück, umgibt sich mit stummen roten Mauern, an deren wenigen Dören uniformierte Wächter, schrill pfeifend, die Gefährlichkeit des Ortes anzeigen. Nur vom anderen Flußufer aus gesehen stehen des,Kremls weiß-golden betürmte Bauwerke zitternd unbestimmt in der Luft und versprechen den Traum einer befreienden Harmonie. Bei fortschreitender Annäherung wird das Versprechen aber immer weniger glaubhaft, und wenn der Wanderer am Tor angelangt ist, gibt es das Versprechen fast nicht mehr, die Schönheit des Traumes ist versunken, ohne Hoffnung steht man vor dem abweisenden, stumpf-rötlichen, Mauerwerk.
Das Maß an Unordnung, welches das menschliche Environment in Rußland enthält, übersteigt das europäische Mittelmaß bei weitem. In russischen Wohnungen türmt sich nötiges und nutzloses Gerät zu Bergen und beansprucht weite Teile der Wohnung für sich, Kleidung und Schuhe klumpen sich zu riesigen unförmigen Haufen und drängen sich an bestimmten Stellen zusammen, während andere Bereiche des Haushalts in leerer Eintönigkeit offenstehen. Die praktische Scheinordnung, der sich diese Dinge in Europa so folgsam unterordnen und sich blitzartig in ihr verstecken, um im Gesichtsfeld kaum Spuren zu hinterlassen, fehlt in Rußland fast völlig, jedenfalls ist ihre Herstellung mit immensen Schwierigkeiten verbunden, und sie bricht auch immer sehr schnell zusammen.
An allen Ecken und Enden der Stadt fordern Transparente, Plakate und Wandzeitungen den jungen Sowjetbürger dazu auf, seiner patriotischen Pflicht gegenüber dem sozialistischen Vaterland nachzukommen und seinen Wehrdienst zu leisten. In Wort und Bild werden die Helden-haftigkeit und Unbesiegbarkeit der sowjetischen Armee gepriesen. Die Militärparaden am Jahrestag der Revolution sind Jahr für Jahr düster-dröhnende Machtdemonstrationen des Sowjetregimes. Auch in Literatur, Film und Fernsehen überwiegt die Kriegsthematik — das Material ist meist dem zweiten Weltkrieg entnommen —
Die Bedeutung der geographischen Physiognomie eines Landes wird leicht unterschätzt. In Rußland wiegt der eigentümliche Charakter der Landschaft doppelt schwer — einmal durch ihre große Ausdehnung, die sich in endlosen Tautologien immer aufs neue bestätigt, aber auch durch die Stellung, die Rußland nach dem geordneten, in vielerlei Zusammenhängen miteinander verbundenen und gut abgesicherten Europa und einem sehr fraglichen Asien, weit entfernt und erfahrungsmäßig schwer faßbar, einnimmt.
Die sowjetische Gesellschaft wird üblicherweise in zwei Klassen — die Arbeiter- und die Bauernklasse — und in die „Schicht der werktätigen Intelligenz“ eingeteilt. In dieser Gesellschaft nimmt die Frau einen Platz ein, der sich so leicht mit keinem ihrer Plätze in einem westlichen Land vergleichen läßt — die Frauen stellen in der UdSSR nämlich fast die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung. Angefangen von Universitätsprofessoren, Ärzten, Lehrern, Ingenieuren, bis zu Fabriksarbeitern Und sogar Bauarbeitern; man findet in all diesen Berufen einen sehr viel höheren Prozentsatz von Frauen als im Westen. Während in Westeuropa und in Amerika ein Großteil der Frauen nur bis kurz vor oder kurz nach der Ehe berufstätig ist und danach seinen Lebensinhalt in Familie und Haushalt findet, arbeitet die sowjetische Frau in ihrem Beruf meist bis zum Pensionsalter. Und die sowjetischen Frauen sind den Männern auch formaljuristisch in jeder Beziehung gleichgestellt.
Die Sowjetunion kennt bekanntlich kein freies Unternehmertum, und auch der Arzt ist in der Sowjetunion kein Privatunternehmer, sondern ein Angestellter des staatlichen Gesundheitsdienstes. Ärztliche Behandlung, ambulant oder stationär in Krankenhäusern, Hausbesuche oder Aufenthalte in staatlichen Erholungsheimen sind kostenlos — mit anderen Worten: die Kosten für die Unterhaltung des Gesundheitsdienstes bilden einen Teil der ziemlich hohen indirekten Steuern auf Lebensmittel und andere Gebrauchsgüter.
Das Wort „Revolution“ spielt im russischen Wortschatz eine große Rolle. Es bedeutet allerdings nicht, daß man die verschiedenen Probleme der sowjetischen Gesellschaft — mögen sie innen- oder außenpolitischer Natur sein — mit revolutionären Mitteln lösen soll. „Revolution“ im sowjetischen Sprachgebrauch bezeichnet das historische Faktum der Oktoberrevolution, welche die gründlegenden gesellschaftlichen Probleme „ein für allemal“ gelöst hat. In diesem Sinne wird die sowjetische Jugend erzogen — ihre Aufgabe besteht darin, die Ziele der Revolution materiell zu verwirklichen. Von frühester Kindheit an, also bereits im Kindergarten, werden die Kinder zu Liebe und Verehrung für Lenin, den Vater der russischen Revolution, erzogen. Im Schulalter liegt das Häuptgewicht der ideologischen Erziehung darauf, den Kindern klarzumachen, daß sie am „Bau des Sozialismus“ mitarbeiten sollen. Diese Arbeit soll „im Geiste des Kollektivismus“ durchgeführt werden. Außerdem ist es die „patriotische Pflicht“ des jungen Sowjetbürgers, durch Ableistung des Wehrdienstes zur Verteidigung der sowjetischen Heimat beizutragen.
Im Paß jedes Sowjetbürgers ist außer Namen, Geburtsort und Datum auch die Nationalität angegeben. Bei Sowjetbürgern jüdischer Abstammung steht im Paß „Jude“ (für die Nationalität istt im Gegensatz zum jüdischen Recht, der Vater ausschlaggebend).
Der Großteil der klassischen russischen Kunst — die Ikonen — wurde von Künstlern gemalt, deren Namen wir nicht kennen. Diese Anonymität hatte ihren Grund in der tiefen Demut des Künstlers vor Gott. Zeitgenössische russische Kunst ist ebenfalls anonym, doch diesmal liegt der Grund in der komplexen politisch-sozialen Entwicklung, die in Rußland nach der Revolution stattfand.