In der Sowjetunion herrscht allgemeine Wehrpflicht, die Dienstzeit beträgt heute zwei Jahre. Bis 1967 dauerte sie allerdings drei Jahre und war somit eine der längsten Dienstpflichten eines nicht kriegführenden Landes überhaupt. In Wirklichkeit jedoch bestand damals die allgemeine Wehrpflicht nur auf dem Papier: Studenten und Angehörige der Intelligenz wurden kaum einberufen, die Armee bestand hauptsächlich aus Bauernsöhnen und einfachen Arbeitern, der allgemeine Bildungsgrad war sehr niedrig, nur wenige Rekruten hatten 10 Schuljahre abgeschlossen.Seit der Reform werden auch Studenten und Akademiker einberufen, die Studenten manchmal mitten aus dem Studium heraus, was sich auf den intellektuellen Standard natürlich positiv auswirkt. Ein Soldat mit akademischer Bildung urteilt aber auch ganz anders und natürlich viel kritischer über Situationen, in denen sich er und die Armee befinden. So unterzeichnete ein sowjetischer Soldat, der sich 1968 in der Tschechoslowakei befand, einen Brief an seine Familie in Moskau mit den Worten: „Euer Euch liebender Okkupant.“
Solschenizyn ist noch immer nicht verhaftet. Ist Solsdienizyn frei? Die Antwort auf diese Frage beweist die Relativität des Begriffes Freiheit. Seit ungefähr zehn Jahren, als Chruschtschow 1964 gestürzt wurde, wird Solschenizyn genauestens überwacht; ein schwarzer Wolga mit Funkantenne ist ständig, bei Tag und bei Nacht, in der Nähe seiner Datscha postiert. Geheimpolizisten folgen ihm und seinen Angehörigen auf Schritt und Tritt. Selbstverständlich wird sein Telephon abgehört, natürlich sind innerhalb des Hauses Abhörgeräte angebracht. Einige Male schon wurde während Solschenizyns Abwesenheit in sein Haus eingebrochen, Manuskripte durchwühlt und zum Teil entwendet. Ein konkreter Vorfall mag die Situation verdeutlichen: Zu Beginn des Jahres 1972 besuchte Solschenizyn einmal mit seiner Frau ein Konzert zum 60. Geburtstag des Komponisten Schostakowitsch, an dem auch Solschenizyns langjähriger Freund und Beschützer, der Cellist Rostropowitsch, teilnahm. Als Solschenizyn den Saal verließ, wurde er augenblicklich von einer sich schnell vergrößernden Menge umringt, Konzertbesuchefn, die ihn um ein Autogramm baten oder ihm die Hand schütteln wollten. „Gebt auf meine Frau acht, zerdrückt sie mir nicht“, sagte Solschenizyn inmitten des Gedränges. „Wir passen schon auf euch auf“, meldete sich da mit lauter Stimme einer der drei Geheimpolizisten, die sichtbar aus der Menge herausstachen.
Es wirft ein bezeichnendes Licht auf die innere Situation der Sowjetunion, daß der Kampf um die Glaubensfreiheit und die anderen Grundrechte heute wieder zu einem beherrschenden Thema der oppositionellen Regungen geworden ist. Allerdings ist die innenpolitische Wirklichkeit in der Sowjetunion deshalb so schwer durchschaubar, weil die Bekenntnisfreiheit, ebenso wie alle anderen Grundrechte, durch die Verfassung garantiert wird. Es ist kein Priester oder Bischof jemals wegen seines Glaubens angeklagt oder verurteilt worden; in der Stalin-Zeit wurden den Angehörigen von Religionsgemeinschaften nämlich in der Regel Sabotage, Diversantentum, Spionage oder Kriegshetze vorgeworfen, während heute die Anklage meist auf Steuerhinterziehung oder Übertretung der sowjetischen Religionsgesetze lautet.
Seit 10 Jahren sind es vor allem Wissenschaftler und Angehörige der technischen Intelligenz, die sich gegen die Herrschaftsmethoden des sowjetischen Establishments auflehnen. Daraus auf einen Zerfall des Systems schließen zu wollen, wäre allerdings völlig verfehlt. Zwar sind zum Beispiel auch religiöse, nationale und sogar faschistische Gruppierungen erkennbar. Die wesentlichsten Aktivitäten innerhalb der sowjetischen Opposition gehen jedoch von marxistischen und leninistischen Organisationen und von der demokratischen Bewegung aus, deren Repräsentant der Kernphysiker A. D. Sacharow ist. Hier sind tiefgreifende gesellschaftliche Wandlungsprozesse in Gang gekommen.
Das Entstehen einer bewußten, intellektuell begründeten Abwehrhaltung gegen die inhumanen Deformationen des sowjetischen Lebens, wie sie sich in den letzten 10 bis 15 Jahren herausbildete, wäre undenkbar ohne die Existenz der russischen Intelligenz. Obwohl durch Revolution, Bürgerkrieg und die stalinistischen Säuberungen in entsetzlicher Weise dezimiert, spielte die Intelligenz doch weiter ihre historische Rolle, die sie bereits in den vorangegangenen beiden Jahrhunderten auf sich genommen hatte: die Rolle des Gewissens der Nation.
Jährlich emigrieren etwa 30.000 Menschen aus der Sowjetunion. Die meisten von ihnen betreten in Wien zum erstenmal westlichen Boden. Der größte Teil der Emigranten wird vom Flughafen direkt ins jüdische Lager-Schönau gebracht, wo sie, von Maschinengewehrposten und scharf dressierten Schäferhunden bewacht, nur ein bis zwei Tage verbringen und sobald wie möglich nach Israel weitertransportiert werden.