Vom jungen Brecht wurde mir folgende Geschichte erzählt: Er ging zur Schule und war kein eifriger Schüler. So geriet er eines Tages in Gefahr, durchzufallen und von der Schule verwiesen zu werden. Immerhin gab man ihm eine Chance: er solle noch eine schriftliche Arbeit liefern, ihr Ergebnis werde entscheidend sein.Bert schrieb die Arbeit, aber, auch sie erhielt wieder einmal die Note „Nicht genügend“. Das junge Genie war ratlos. Dann fiel ihm ein Trick ein. Er verschaffte sich rote Tinte von demselben Rot, das der Lehrer für seine Korrekturen benützte. Mit dieser Tinte strich Bert
Ich habe gejubelt, ich habe mitgejubelt, sagte der alte Mann und hämmerte mit seiner dürren Faust auf den Tisch, und keine Träne wäscht den Makel ab — (doch das sagte er nicht mehr und hätte es auch nicht sagen können, denn er hatte seit seiner Kindheit nicht mehr geweint). Dennoch war in ihm ein Bittersee, seit einem Menschenalter ein Bittersee, er watete darin und schöpfte Wermut und Lauge und goß sich damit voll bis oben.Ich habe mitgejubelt, sagte er, und sollte deshalb gar nicht mehr da sein, nicht mehr da sitzen auf meinem Stuhl, unter meinem Dach, mich nicht sättigen dürfen
Ich bin Katholikin und versuche, eine leidlich gehorsame Tochter der Una Sancta zu sein. Wenn ich mich aber frage, was mich so stark an Religion und Kirche gebunden hat, so muß ich mir zugeben, daß ich sie beide von Kindheit an — damals selbstverständlich ganz unbewußt — auch als ästhetisches System erlebt und als solches verinnerlicht habe.Es geht und ging mir dabei nie um Pomp, um Weihrauch und goldene Troddeln an Meßgewändern. Anderes hat mich fasziniert; vor allem die Bibel als Offenbarung und zugleich überwältigend dichterischer Text; dann der tiefgründige Kosmos der
Nein, ich kann nicht sagen, welches Weihnachtsfest mein schönstes oder wichtigstes gewesen wäre. Ich habe zu viele schöne und wichtige Weihnachtsfeste erlebt, es wäre ungerecht, höbe ich eins von ihnen hervor. Und doch habe ich selbst das Feiern erst spät gelernt. Ich hatte einen guten Lehr-, meister: nicht jedermann ist das richtige Feiern angeboren.In meiner Familie war wenig Talent vorhanden, in festlicher Behaglichkeit zu feiern. Man war zwar guten Willens, Weihnacht und Ostern und was es sonst noch an Festen gab, nach Brauch zu begehen. Vor allem die Frauen gaben sich alle Mühe.
Der berühmte Autor sollte demnächst seinen Siebzigsten feiern. „Warum schreiben Sie keine Kurzgeschichten mehr?“ fragte ihn der Reporter. „Sie schreiben nur noch gewichtige Romane - und sind doch mit Ihren short stories bekannt geworden. Können Sie mir den Grund dafür verraten?“Der berühmte Autor zögerte ein wenig. „Ich glaube schon“, sagte er, „aber es ist nicht so leicht zu erklären. Ich zeige Ihnen lieber zuerst mein Haus, .ehe wir Tee trinken. Beim Tee können wir dann darüber reden.“Der Autor erhob sich, der Reporter folgte, sie verließen das Zimmer. Schon im Flur
Um heute über den Papstbesuch resümieren zu können, muß ich weiter ausholen, bis in das Ponti-fikat Johannes XXIII.Ich muß gestehen, daß mir die joviale Großherzigkeit, mit der dieser Papst zum Konzil aufgerufen hatte, von allem Anfang an Bedenken verursacht hat. Die Kirche sollte an Haupt und Gliedern reformiert werden. Sehr schön. Auch ich hatte mir oft vorgestellt, daß die Kirche nur gewinnen könnte, wenn sie sich öffnen würde, doch öffnen, wohin? Ich hatte den Raum einer neuen Mystik, einer neuen Spiritualität im Sinn. Nun aber geschah ganz anderes.Mit Staunen (und
Sie kennen die Geschichte vom Türhüter? Dervgroße Dichter hat sie geschrieben, alle Welt hat sie gelesen. Sie erzählt:Vor dem Gesetz stand ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kam eines Tages ein Mann und bat um Einlaß. Der Türhüter sagte: „Ich kann dir den Einlaß jetzt noch nicht gewähren." — Der Mann war geduldig und wartete. So saß er vor dem Tor — lange Zeit. Wieder und wieder fragte er den Türhüter, ob es denn immer noch nicht gestattet sei, einzutreten, und dieser verweigerte es jedesmal.Der Mann wurde alt, er gab nicht auf. Nach wie vor stand derselbe Türhüter
Wir reden heute über Weihnachten, sagte der Lehrer, und ihr sollt mir davon erzählen. Laßt hören! Was geschieht denn eigentlich, wenn das Christkind kommt?Dann gibt es einen Christbaum und viele Geschenke, sagte der kleine Junge in der ersten Bank.Wir gehen auf den Friedhof, meldete sich das kleine Mädchen neben ihm, und bringen der Großmutter vor der Bescherung ein Bäumchen und stellen es vor ihren Grabstein, und-es ist recht schön, wenn sich die Lichter im glatten Marmor spiegeln.Das ist auch schön, sagte ein größeres Mädchen, aber ich weiß noch etwas Schöneres. In der
Die große Messe im Donaupark war zu Ende. Die Ansagerstimme aus dem Lautsprecher bat, noch auf dem Gelände zu bleiben, denn das Abströmen so großer Menschenmassen brauche Zeit. Also blieb man — durchnäßt wie lange nicht mehr, aber fest entschlossen, Frösteln und Ungeduld zu unterdrücken.Niemand schien ungeduldig. Das weiße Papamobil fuhr noch eine halbe Runde, die Leute jubelten, jubelten, obwohl sie alle naß, müde—und die meisten wohl auch schon hungrig waren.Der Rasen hatte sich streifenweise in braunen Kot verwandelt. Die zerweichten Pappstühle lagen zu Hunderten herum. Aber
Hier ist der Fluß gestaut. Unter der Uferböschung, vor dem eisernen Landungssteg scheint er stillzustehen oder gar rückzufluten. Erst weiter draußen kann an einem treibenden Blatt, einem schwimmenden Hölzchen, an der flachen flüchtigen Muschelung, die ein schnappendes Fischmaul hinterläßt, die stärkere Strömung abgelesen werden. Sie ist zügiger als vermutet. Auch Schleusen saugen an.Jenseits des Flusses steht der steile laubüberwölkte Hang unter fleckigem Abendhimmel und den gelben Mauern der bayerischenNeuburg. Der Turm — abgedeckt und eingerüstet. Am Hauptbau ist auch jetzt
Beim Piper Verlag sind „Sämtliche Gedichte“ von Ingeborg Bachmann neu in einem hübschen, sorgfältig gemachten Band herausgekommen; diese Ausgabe zieht die Konsequenz aus der sich immer klarer abzeichnenden Erkenntnis, daß die Bedeutung der Bachmann, ihre Größe und Einmaligkeit vor allem in ihrer ebenso sensiblen wie radikalen Lyrik (und allenfalls noch in ihrem, mit Lyrismen dicht durchsetzten Hörspielwerk) liegt, während ihre Prosa an Faszination schon viel eingebüßt hat.So wird — nach der exemplarischen Bearbeitung des Gesamtwerks — nun ein Konzentrat einer dichterischen
Stephanus, Armenpfleger der Urgemeinde, gab als Erster sein Leben für Christus hin. Er wurde gesteinigt, doch mitten in dieser Todesqual war er, wie die Schrift erzählt, vom Heiligen Geist erfüllt; er blickte zum Himmel und sah die Herrlichkeit Gottes über sich leuchten - und Jesus zur Rechten des Vaters. Und sein Antlitz strahlte, er strahlte im Glanz triumphaler Selbsthingabe.In der Nähe der Richtstätte stand ein Mann mit Namen Saulus. Man hatte die Kleider des Gesteinigten zu seinen Füßen niedergelegt, damit er sie bewache. Er sah zu, wie der Heilige starb. Kurz darauf brach er zu
Die Frau im Witwenschleier packte meine Hand und wies heftig — mit dem Ausdruck des Hasses — auf einen jungen Franziskanerbruder, der vor uns die Straße überquerte. Er hinkte, und sein helles, rundes Gesicht sah etwas blödsinnig drein. Die Frau preßte meine Hand und schüttelte meinen Arm dabei. „Schau dir das an!" murmelte sie halberstickt. „So etwas lebt! — und mein Richard, mein Richard mußte fallen."Ich war ein Kind, vielleicht erst fünf und sicher nicht älter als sechs Jahre alt. Trotzdem glaubte ich zu verstehen, was die Frau meinte, denn davon war damals im
Was ist Liebe? Wenn ich Ja sage zur Existenz eines anderen, ist das schon Liebe? Sicher nicht. Aber so fängt sie vielleicht an als allgemeine Menschenfreundlichkeit, Lebensfreundlichkeit, ein flüchtiges Gefühl, ein lauer Windhauch, der mein (inneres) Gesicht berührt: du, der da mit mir in der Trambahn fährt, du, der da vor mir in meiner Lesung sitzt, du, junge Mutter mit dem Kind auf dem Arm, du, alter Mann mit dem Blindenhund, ich will euch wohl, aber ich weiß nichts von euch, werde auch nie etwas wissen, mein Ja-Sagen hat nichts zu besagen, es weht an, weht weg, es wird sich auch
Am 8. Mai wird das neue Werk von Gertrud Fussenegger „Maria Theresia” (Verlag Fritz Molden, Wien)präsentiert. Die Autorin hat für die Leser der FURCHE einen Abschnitt ihres Buches ausgewählt: Maria Theresias Krönung zur Königin von Ungarn.Maria Theresia war, wie bekannt, kurz nach ihrem Regierungsantritt 1740 von Friedrich II. überfallen worden. Mit den Sachsen Verbündet rückte er in Schlesien ein, sein Heer gewann die Schlacht von Mollwitz. Maria Theresia setzte sich verzweifelt zur Wehr.Seltsamerweise kam gerade in jenen schwarzen Wochen der jungen Königin von einer Seite
Was vermag Literatur? Wenn mir die Frage gestellt wird, was Literatur vermag, so drängen sich mir zwei Antworten auf: Literatur vermag gar nichts. Und: Literatur vermag sehr viel. Wie komme ich zu diesen zwei Sätzen?Es war vor einigen Jahren, als in Linz eine junge Künstlerin auftrat, die sich -auf etwas ungewöhnliche Weise - für die Befreiung der Frau engagierte. Ich habe den Auftritt nicht selbst gesehen, ich ließ ihn mir aber beschreiben. Er war szenisch-theatralisch, also im Grunde literarisch. Der Auftritt erregte Aufsehen, ein heftiges Für und Wider.Etliche Tage danach traf ich
Als ich das Haus zum erstenmal betrat, standen drei Totenkränze im Flur an die Wand gelehnt, und es roch nach Rosen, Wachs und Tųjen. Hinter den Kränzen stand ein großer Karton, und unter seinem aufgeschlagenen Deckel lagen winzige weiße Brautbuketts reihenweise aufgeschichtet, zum Versand bereit. Dahinter stand eine Tür offen und aus dem Rumoren erriet ich, daß dort die Küche war und daß jemand eifrig dabei war, eine Mahlzeit zu bereiten.Aber der Herr des Hauses führte mich an der offenen Küchentür vorbei und hinaus in den rückwärtigen Hof.Dieser Hof war wie ein Saal, grün und
Ich bin bei Freunden zu Besuch. Sie haben zwei Kinder, einen netten elfjährigen Buben, ein lustiges und kluges zwölfjähriges Mädchen. Man führt mich ins Kinderzimmer, wo die beiden - jetzt schon - an Weihnachtsgeschenken basteln. An der Tür des Kinderzimmers klebt das Fahndungsblatt der Terroristen: 16 finstere Gesichter, Namen und Daten überführter oder potentieller Mörder.Anderntags werde ich bei anderen Freunden durch das neuerbaute Haus geführt, man ist soeben eingezogen, alles ist so hübsch und komfortabel wie möglich. Uber dem Bett des sechzehnjährigen Sohnes: dasselbe
Mitte Oktober erhielt der polnische Philosoph Leszek Kolakowski in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis 1977. Ich begegnet seinem Namen zum erstenmal in einem großen Interview, das er sechs Jahre zuvor, kurz nach seiner Emigration in den Westen, dem deutschen Wochenblatt „Die Zeit” gegeben hatte. Da sagte Kolakowski unter anderem: er sei zwar Atheist, müsse aber bekennen, daß der Mensch nie und nirgends soviel Selbstidentifikation erreiche wie durch die Religion.So sprach er, ein Pole, also Angehöriger eines Volkes, dem die Kirche seit jeher Raum der Selbstverwirklichung bot;
Im frühherbstlichen Alpbach ist heuer eine Rede gehalten worden, die insofern überraschen konnte, als sich in ihr von hoher, nahezu höchster Stelle die Sorge über die Verwilderung unseres massenmedialen Vokabulars zu Worte meldete. Thema der Rede: Schutz und Bedrohung der Menschenwürde unter dem Aspekt der Pressefreiheit.Minister Broda hat diese Rede gehalten. Selbstverständlich ging er dabei von den in der Menschenrechtskonvention festgelegten Grundrechten aus, also vom Recht auf freie Meinungsäußerung, vom Recht auf Medienfreiheit. Er hatte dabei freilich auch auf den Schutz
Sie toben sieh, meine Damen und Herren, in beklagenswerter Zeit au ' beklagenswertem Anlaß versammelt: zu einer Schulfeier. Beklagenswert ist unsere Zeit, da sie sich — bei allgemein maxi-miertem Trend zur Perfektion — doch in niohts so sehr perfektioniert hat wie in der Fähigkeit, sich über sich selbst zu beklagen. Sie bejammert aber nicht nur ihre Gegenwart, sie weiß auch die Vergangenheit samt allen möglichen Zuküniften in den schwärzesten Farben zu malen, sie klagt über Gott und die Welt, über den Menschen, den Unmenschen, Untermenschen, natürlich auch über den
Leon war fünf oder sechs Jahre alt, als Veronique seinen Weg kreuzte, Veronique war ein kleines zerlumptes Mädchen, das jeden Tag unter den Mauern von Fenestreau vorüberkam, um seinen Vater, der als Taglöhner in den nahen Weinbergen des reichen Bambou-eheur arbeitete, das Essen zu bringen. Leon liebte es, auf dem verfallenen Steinwall zu liegen upd sich in der Mittagssonne braten zu lassen. Das kleine Mädchen kam den begrasten Pfad herauf, sie war barfuß und hatte nichts am Leib als einen verschossenen blauen Leinenkittel. In der Hand trug sie einen Korb und in diesem Korb einen irdenen
sie haben mich herausgeholt eine saubere ourette hat mich herausgeschält wo ich noch gerne gewesen wäre sieben monate lang in warmer höhlezu ende war der träum gerade als er zu pochen beginnen wollteich bin ein nichts klümpchen blasser gallerte der wegden sie mich schickten ist sehrbetrüblich erst eine schüssel aus porzellan dann in den ausguß durch röhre kanäle irgendwohin wo es finster und kalt ist höchstungemütlichich weiß gar nicht wo kann diesereise enden im bauch eines flsches, in morast und schlämm im delta der flüsse im schilf desmeeresaus dem sie alle gestiegen sind
Die nachfolgende Erzählung ist dent Roman „Zeit des Raben — Zeit der Raube" entnommen. Der bei der Deutschen Verlagsanstalt, Stuttgart, erschienene Roman erzählt in alternierenden Kapiteln die Lebensgeschichte des katholischen Dichters Leon Bloy und der Entdeckerin des Radiums, Marie Curie. Das hier wiedergegebene Kapitel schildert eine Episode aus der Jugend des Dichters. — Bloy wurde 1846 in Perigueux geboren und gilt als markantester Vorläufer des Renouveau catholiąue. Bekannt ist seine tragische Liebesbegegnung mit Anne Marie Route, die, von ihm aus der Gosse gerettet, zu einer
WENN HEUER, wie alljährlich zu Allerseelen, unsere Friedhöfe von Tausenden besucht, geschmückt und mit Kerzen erleuchtet werden, so sind unter diesen Tausenden sehr viele, die, während sie ihrer frommen Pflicht an den Gräbern ihrer Angehörigen genügen, ihre Gedanken in Liebe und Trauer doch in die Ferne schicken müssen, denn der vielleicht liebste Mensch, Sohn, Gatte, Vater oder Bruder, liegt nicht in dem von ihnen geschmückten Grab. Er starb als Soldat irgendwo in der Ferne, irgendwo in einem fremden Land ist er der Erde übergeben worden. Was ist unterdessen mit seinen Gebeinen