Der Zeitzeuge Viktor Ma-tejka nimmt zum Beitrag „österreichische Katholiken und der Anschluß“ von Theodor Veiter in FURCHE 1/1988, Dossier über 1938, Stellung.
Es war Anfang Mai 1945, wenige Tage nach dem Neubeginn im Wiener Rathaus. Der 1. Mai war bereits im Zeichen der Befreiung gefeiert. Vom Ende des Tausendjährigen Reiches blieben tausendfache Not, tausendfaches Elend, der Hunger war unbeschreiblich. Und diese Gespenster sind auch 35 Jahre nachher nicht vorstellbar. Die Stadt war zerstört wie nie zuvor. Da kam ein Brief vom provisorischen Staatssekretär Für Ernährung in der auffallend viele Mitglieder zählenden Provisorischen Regierung.Die Botschaft erreichte nicht nur mich als provisorischen Wiener Stadtrat Für Kultur und Volksbildung,
Wäre er Bankbeamter geblieben, hätte er’s vielleicht zum Generaldirektor gebracht, und dem so Arrivierten wäre ein sorgenfreies Leben sicher gewesen. Als Bankbeamter fing Gauguin an, wurde aber in einem wechselvollen Leben ein weltberühmter Künstler. Als Bankbeamter fing Kahnweiler an, wurde aber nach einem Wechsel von Deutschland nach Frankreich ein weltberühmter Kunsthändler. In Wien fing als Bankbeamter Arnold Schönberg an. Sein musikalischer Weg war bis zu seinem Tod hart und steinig. Doch seine Theorie und seine Praxis eroberten auf friedlichen Wegen die Welt. ~
Bis 1945 gehörte ich keiner politischen Partei an, und auch seither, auch in den Jahren meiner einzigen Parteimitgliedschaft, habe ich mich bemüht, für alle Menschen da zu sein. Man erlaube mir diese simple Feststellung, weil die durch nichts bewiesene Behauptung des Gegenteils bis heute nicht ausgestorben ist. Ich war mit allen Parteien unzufrieden und bin es heute noch, bekämpfte und bekämpfe Irrwege und Fehlleistungen, wo immer sie als solche erkennbar sind, möglichst rechtzeitig, frühzeitig, auch wenn mir das den Narren oder den Sonderling oder Ärgeres einbringt. Das hinderte mich nicht, die menschlichen Beziehungen zu verschiedenartigen Parteimitgliedern zu pflegen. Der Mensch ist ungleich mehr wert als Partei, Weltanschauung, Ideologie, Religion, Konfession, Sekte, elfenbeinerner Turm. Friedliche Koexistenz war für mich immer etwas Selbstverständliches, lange, bevor sie spezielle Doktrin wurde.
Im KZ wurde sie auch denen aufgezwungen, und vielfach sogar selbstverständlich, die sie früher noch nicht kannten oder praktizierten. Auch in der Zeit meiner Parteizugehörigkeit — Mitglied des ZK der KPÖ von 1945 bis 1956 — ebenso wie als Stadt-und Gemeinderat, als Redakteur des „Tagebuch“ und dessen Mitherausgeber war mir die Bereitschaft für alle Österreicher etwas Selbstverständliches. Wie das meine Zeit- und Neidgenossen jeweils einschätzten, heute und morgen einschätzen, ergibt sich begreiflicherweise aus dem Unterschied.