24 Stunden nonstop an Grenzen gehen

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Acht Kinder und Jugendliche lernen in der Wohngemeinschaft „Lange Allee“ in Wien-Donaustadt die Grundregeln des Zusammenlebens. Wie Sozialpädagogin Verena Bauer diese tägliche Herausforderung meistert? Mit Konsequenz, Respekt – und überirdischer Geduld.

Der Dreijährige zerlegt sein Zimmer – doch Verena Bauer bleibt ruhig. Bei seinen leiblichen Eltern hätte er dafür bombensicher Schläge ausgefasst, doch Verena Bauer bleibt ruhig. Mama und Papa hätten das wüste Treiben womöglich irgendwann aus Verzweiflung ignoriert, doch Verena Bauer bleibt ruhig – und schaut dem Zwerg beim Toben zu. Irgendwann stellt sie ihm dann eine Frage: „Ist dir klar, dass du das alles wieder einräumen wirst?“

Zwei Stunden lang habe man „dieses Spielchen“ gespielt, erinnert sich die 25-jährige Sozialpädagogin an einen besonders einprägsamen Fall ihrer noch jungen Erzieherinnen-Laufbahn. „Doch als der Kleine gemerkt hat, dass ich die Ruhe bewahre, ist auch er ruhiger geworden.“ Bei eigenen Kindern – und Möbeln – fällt diese Geduld und innere Distanz natürlich schwerer. Dennoch sei Gelassenheit – neben Konsequenz und gegenseitigem Respekt – eine der wichtigsten Säulen ihrer Erziehungsphilosophie.

Seit 2004 ist die junge, aber mit natürlicher Autorität gesegnete Frau in der Wohngemeinschaft „Lange Allee“ in Wien-Donaustadt im Einsatz. Abwechselnd mit zwei weiteren Sozialpädagoginnen und einem -pädagogen begleitet sie hier sieben Burschen und ein Mädchen zwischen sechs und 14 Jahren. Es sind Kinder und Jugendliche, für die – aus Sicht des Jugendamtes – ein Leben bei den leiblichen Eltern nicht mehr zumutbar war: Weil sie vernachlässigt wurden; weil den Eltern regelmäßig „die Hand ausrutschte“; weil die Geborgenheit fehlte.

Klar strukturierter Tagesablauf

Das Grundproblem der Eltern: Überforderung. „Ein Großteil der Eltern hat selbst Heimerfahrung“, erzählt Verena Bauer. Dazu kommen oft Alkohol- und Drogenprobleme. Manche Eltern überfordert aber schlicht ihre hohe Kinderzahl. Einzelkinder gibt es in der WG, die von der Wiener MAG ELF (Amt für Jugend und Familie) betrieben wird, jedenfalls keine.

Für Kinder unter zwei Jahren, die zu Hause nicht mehr gut aufgehoben sind, sucht das Jugendamt einen Platz bei Pflegeeltern. Ältere Kinder und Jugendliche bis 18 Jahren finden in einer der 76 Wohngemeinschaften ihre neue Heimat. Mindestens ein Jahr leben sie hier – und lernen jene Grundregeln des Zusammenlebens, die ihnen von den eigenen Eltern nicht vermittelt werden konnten.

Die Basis bildet ein klar strukturierter Tagesablauf: gemeinsames Frühstück mit anschließendem Zähneputzen, Schulbesuch, Mittagessen, kurze Pause, Erledigen der Hausaufgaben mit Lernbetreuung, Freizeitgestaltung im Garten, bei Gesellschaftsspielen oder dem „Wuzzler“ im Wohnzimmer, gemeinsames Abendessen, alters-adäquater Computer- und Fernsehkonsum, Zähneputzen, nach Alter gestaffelte Schlafenszeiten. Ein Rhythmus, der Sicherheit gibt.

Und Verena Bauer ist immer dabei: 24 Stunden nonstop. Um 8.30 Uhr, wenn die Kinder in der Schule sind, kommt sie in die WG, um mit der Vorgängerin kurz den Vortag zu besprechen. Anschließend liest sie das Dienstbuch, organisiert Termine bei Ärzten und Therapeuten, hält Rücksprache bei Schulproblemen, plant Besuche von Eltern in der WG oder Wochenendausgänge von Kindern.

Wenn sich ab zwölf Uhr die ersten Volksschüler um das Mittagessen balgen, das Wirtschaftshelferin Milka GaÇcic gezaubert hat, beginnt die eigentliche Erziehungsarbeit. Patentlösungen gebe es dabei keine, gesteht die Sozialpädagogin. Auch wenn Bücher wie Jedes Kind kann Regeln lernen wertvolle Tipps enthielten, so müsse man doch auf jedes einzelne Kind eingehen. „Das Wichtigste beim Überschreiten von Grenzen sind klare Konsequenzen, die immer erklärt und tatsächlich umgesetzt werden“, weiß die Pädagogin.

Seelische Erpressung

Ihr Grundansatz lautet: Reden wir darüber! „Meist hat Renitenz ja einen Hintergrund“, weiß die Pädagogin. „Um pure Provokation handelt es sich sehr selten.“ Nur bei Selbstgefährdung greift Bauer körperlich ein. Wenn etwa ein Kind mit Füßen und Fäusten gegen eine Tür schlägt, um die anderen zu stören, trägt sie es in sein Zimmer. Anschließend versucht sie, den Auslöser zu eruieren – in diesem Fall ein anderes Kind, das den Lieblingsplatz okkupiert hat.

Insgesamt sind körperliche Interventionen wie Festhalten nur zum Selbstschutz bei tobenden Kindern angebracht, denen man kräftemäßig überlegen ist. „Bei einem 15-Jährigen überlege ich mir das dreimal“, sagt Bauer. „Denn wenn ich verliere, verliere ich auch mein Ansehen gegenüber dem Kind.“ Eine „gesunde Watschn“ sei jedenfalls tabu und ein sofortiger Kündigungsgrund. „Sonst stellen wir ja dieselbe Situation her wie jene, aus der wir die Kinder herausgeholt haben,“ betont die Pädagogin. Werde man selbst tätlich angegriffen, dürfe man sich aber natürlich wehren.

Mindestens so schlimm wie körperliche ist indes psychische Gewalt. Und die beginnt für Verena Bauer beim Entzug der Liebe: „,Sei brav, oder Mama hat dich nicht mehr lieb!‘ ist ja keine Konsequenz, sondern seelische Erpressung.“

Und was macht die kinderlose Erzieherin selbst, um angesichts ihres Jobs die Seele im Gleichgewicht zu halten? Da wären einmal jene drei freien Tage, die jedem 24-Stunden-Einsatz folgen. Auch die regelmäßigen Teamsitzungen, Supervisionen sowie die strikte Trennung von Beruflichem und Privatem helfen ihr bei der Psychohygiene. „Ein Helfersyndrom wäre jedenfalls kontraproduktiv“, stellt Verena Bauer klar. „Diese Kinder brauchen Halt – und kein Mitleid.“

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