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30 Jahre Verfassungsgeriditshof

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Als wir jüngeren österreichischen Juristen nach harten Berufs- und Soldatenjahren im Jahre 1945 in Kriegsgefangenenlagern schmerzlich auf die Freiheit warteten, ist uns die klare Einsicht gekommen: mehr als jemals werden wir dem Gesetz, der Gerechtigkeit dienen müssen. So entstand aus schwerem Erlebnis in uns ein geläutertes, reineres Bild jenes Rechtsstaates, den vor 200 Jahren einer der Weisen des Abendlandes als jenen Staat beschrieben hatte, dessen Verfassung so sei, daß niemand zu Handlungen gezwungen werde, zu denen ihn das Gesetz nicht verpflichte, oder zur Unterlasung von Handlungen, die das Gesetz ihm erlaube. Diese Vorstellung vom Rechtsstaat liegt der ganzen österreichischen Rechtsordnung zugrunde, die diesen Grundgedanken immer wieder in feierlicher Form ausspricht. Ihre mächtigste Stütze findet diese Vorstellung vom Staate, der gerecht sein soll, darin, daß sie zutiefst im Bewußtsein jedes Österreichers verwurzelt ist. Daher empfinden wir auch alle Verstöße gegen den Grundgedanken des Rechtsstaates so schmerzlich und lehnen jede Tätigkeit des Staates, sei es in der Verwaltung oder in der Rechtssprechung, aber auch in der Gesetzgebung äb, die dieser Vorstellung vom gerechten Staat nicht entspricht.

Wie unendlich schwer ist aber dieser gerechte Staat zu verwirklichen! Alles Menschliche ist sosehr dagegen. Es hieße ein Buch über die Irrwege schreiben, die der Mensch gehen kann, wollte man alle Fehler und Mängel schildern, an denen das Handeln des Staates kranken kann. Von der bösen Absicht des verbrecherischen Beamten bis zum Irrtum des nach Wahrheit ringenden Richters, alles bedroht die Gerechtigkeit. Wieweit ist doch der Weg zum gerechten Urteil, zum gerechten Bescheid! Und darauf kommt es an.

Viele Mittel bietet die Rechtsordnung dar, um vor solchen Übergriffen des Staates zu schützen. Für uns ist die oberste dieser Einrichtungen der Verfassungsgerichtshof, der seit nunmehr 30 Jahren als letzte Schranke gegen Willkür dem Schutze der höchsten Güter des einzelnen, aber auch der Sicherung des staatlichen Gemeinschaftslebens dient. Schon sein Vorgänger, das Reichsgericht, hatte seit 1869 als Garant jener Ordnung gewirkt, die wohl 1918 in Blut und Trümmern untergegangen ist, die uns aber auch heute noch als eine gerechte Ordnung aus der Geschichte entgegenleuchtet. Mit jener Ordnung verschwand das Reichsgericht, an seine Stelle trat der Verfassungi- gerichtshof, 1934 mit dem Verwaltungsgerichtshof zum Bundesgerichtshof vereinigt, 1938 untergegangen, seit 1945 wieder erstanden als Werkzeug im Ringen um di Rückkehr zum Rechtsstaat.

Wer ist nun dieser Gerichtshof? Wer über die Löwenstiege der böhmischen Hofkanzlei in der Wiener Wipplingerstraße hinaufsteigt und den herrlichen großen Vcrhand- lungssaal betritt, um an einer Verhandlung des Verfassungsgerichtshofes teilzunehmen, sieht vor sich einen Gerichtshof, der aus dem Präsidenten, dem Vizepräsidenten und zwölf weiteren Mitgliedern besteht. Es sind nicht Juristen verschiedener Berufe, die sich etwa vierteljährlich zu den Verhandlungen des Gerichtshofes in Wien versammeln. Derzeit gehören dem Gerichtshof an: 3 Universitätsprofessoren, 5 Richter, 4 Rechtsanwälte und 2 Verwaltungsbeamte. Bei ihrer Berufung wird von Gesetzes wegen in gleicher Weise auf alle politischen Anschauungen, auf Wien und die Länder und auf alle juristischen Berufe Bedacht genommen. Der Verfassungsgerichtshof ist etwas Lebendiges, ein kultureller Wert hohen Ranges, der bei bescheidenstem Aufwand Großes leistet. Die in letzter Zeit gelegentlich geäußerten Anregungen auf Auflassung und Vereinigung mit dem Verwaltungsgerichtshof fordern eine herostratische Tat. Der Hinweis auf die Zeit der Vereinigung zwischen 1934 und 1938 hat keine Beweiskraft, denn es gab damals verfassungsrechtliche Auseinandersetzungen nur im technischen, nicht aber im echten, politischen Sinn.

Nur der Schutz der bedeutendsten Güter der Gemeinschaft kann diesem kostbaren Werkzeug Vorbehalten sein, soll sich die Einrichtung nicht an minderwichtigen Sachen verbrauchen. Zwei große Aufgabengebiete obliegen dem Verfassungsgerichtshof. . Der Zahl der Fälle nach stehen an erster Stell die Beschwerden gegen Verletzung verfassungsgesetzlich geschützter Rechte. Die österreichische Rechtsordnung hat eine Reihe von Rechten, die dem Gesetzgeber als besonders wertvoll gelten, in Verfassungs gesetzen verankert. Hieher gehören vor allem die Grund- und Freiheitsrechte, wie sie in dem Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger von 1867 normiert sind, zum Beispiel die Gleichheit vor dem Gesetz, die Freiheit der Person, die Freizügigkeit der Person und des Vermögens, das Eigentum, das Hausrecht und andere. ‘Jene Rechte also, ohne deren Gewährleistung wir uns eine Gemeinschaft unserer Kultur nicht denken können. Wird eines dieser grundlegenden Rechte durch Bescheid einer Verwaltungsbehörde verletzt, dann kann der Verfassungsgerichtshof angerufen werden, wenn die ordentlichen Rechtsmittel nicht zum Ziel geführt haben. Immer neue Aufgaben wurden hier dem Verfassungsgerichtshof gestellt. Um nur ein Beispiel zu nennen: Als 1945 und in der Folge Verwaltungsbehörden, getrieben durch die Not der Zeit, aber auch unter der Herrschaft unglücklicher Gedanken von der Allmacht des Staates, auf Grund des Reichsleistungsgesetzes Wohnungen, Möbel, Kraftfahrzeuge und anderes nach Willkür anforderten, stellte die Rechtsprechung des Verfassungsgerkhtshofes, hier unterstützt durch die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, in kurzer Zeit die Ordnung wieder her. Heute gibt es Beschwerden über den Mißbrauch des Reichsleistungsgesetzes kaum mehr. Wir bewundern die Tatsache, daß dabei der Verfassungsgerichtshof nichts anderes tun mußte, als jene Grundsätze anzuwenden, die schon vor ihm durch Jahrzehnte das Reichsgericht angewendet hatte. Man soll uns doch nur einen Staat der Welt nennen, in dem seit 80 Jahren unverändert ein gerichtlicher Schutz der Grund- und Freiheitsrechte so vollkommen auf Grundsätzen aufgebaut ist, die jede Änderung der Staatsform überstanden haben. Der Verfassungsgerichtshof und früher das Reichsgericht haben eben bei ihrer Tätigkeit alles das verwirklicht, was wir zu den Grundlagen unserer Kultur rechnen: Gerechtigkeit, Duldsamkeit, Freiheit!

Noch wichtiger vielleicht ist die Aufgabe des Verfassungsgerichtshofs auf dem zweiten Gebiet seiner Tätigkeit, als Wahrer der Verfassung. In jedem Staat, mit Ausnahme einer zentralistischen Tyrannis, wird es verfassungsrechtliche Spannungen geben, die nach Lösung drängen. Wenn wir Österreich betrachten, etwa die Spannungen, die sich aus dem Verhältnis Bund—Länder ergeben; die Spannungen zwischen den verschiedenen Staatsfunktionen, vor allem zwischen Gerichtsr barkeit und Verwaltung; die Spannungen, die sich zwischen einfacher Gesetzgebung und Verfassungsgesetzgebung ergeben und schließlich die Spannungen zwischen den obersten Organen der Vollziehung und den gesetzgebenden Körperschaften — alle diese Spannungen sind natürlich, ja, sie sind für jeden freien Staat notwendig, soll nicht das Leben in ihm erstarren. Aber wehe dem Staat, der nicht das Mittel bereit hat, sie friedlich zu lösen! Es gibt eben dann kein Mittel, um zum Beispiel einen Streit zwischen Bund und Ländern zu lösen, als die nackte Gewalt. Österreich besitzt im Verfassungsgerichtshof das Werkzeug für die Lösung dieser Frage, soweit sie rechtlich überhaupt gelöst werden kann. So entscheidet er als Kompetenzgerichtshof zwischen Bund und Ländern, zwischen Gerichten und Verwaltungsbehörden, als Staats- gerichtShof über Anklagen gegen die obersten Organe der Vollziehung wegen Verletzung der Verfassung oder der Gesetze, als Gesetzesr Prüfungsgericht über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen, als Verordnungsprüfungsgericht über die Gesetzmäßigkeit von Verordnungen. Als Wahlgerichtshof sichert er die Reinheit der Wahlen, auf die wir mit Recht stolz sind.

Wir können sagen, daß der Verfassungsgerichtshof den schweren Aufgaben, die ihm gestellt sind, gerecht geworden ist. Unbeirrt von allem Streit des Tages hat er diesem Staat gedient, geholfen, das Gesetz zu verwirklichen, leidenschaftlich auch bestrebt, jedem das Seine zu geben. Deshalb gebühren Glückwünsche diesem Gerichtshof, der in diesen Tagen den 30. Jahrestag seiner Einsetzung begeht.

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