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Die Beschleunigung unseres Lebens nimmt zu. Wer nicht multitaskingfähig ist, geht einfach unter – oder wird zum Revolutionär. „Die Eile hat der Teufel erfunden“, lautet ein Sprichwort. Und doch prägt Stress unseren Alltag. Immer mehr Menschen agieren nicht mehr selbstbestimmt, sondern sind Getriebene eines Systems, das immer schneller Ergebnisse verlangt. Zugleich wächst die Sehnsucht nach „Entschleunigung“. Die 11. GLOBArt Academy im Kloster Pernegg hat den Vorzügen der Langsamkeit nachgespürt. Worin sie bestehen, verrät dieses Dossier, das in Zusammenarbeit mit GLOBArt entstanden ist. Redaktionelle Gestaltung: Maria Stradner, Doris Helmberger

Unsere Gesellschaft hat mit Zeitproblemen zu kämpfen: Die Zeit rennt, sie verrinnt oder wird gestohlen. Was man in Sprichwörtern und Floskeln der Alltagssprache findet, ist für viele Menschen zu einem ernsthaften Problem geworden: Das Gefühl, keine Zeit mehr zu haben. In unserer Umwelt scheinen alle Vorgänge wie im Zeitraffer abzulaufen: Der Arbeitsrhythmus wird beschleunigt, der Verkehr gewinnt an Tempo und die Datenübertragung ermöglicht es, fast zeitgleich zu senden und zu empfangen.

„Wir werden einer Beschleunigung unterworfen, die atemberaubend ist“, erklärt Peter Kampits, Dekan der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft der Universität Wien, in seinem Einführungsvortrag bei der GLOBArt Academy 2008 (siehe Kasten). Diese Beschleunigung wirke in alle Bereiche des Lebens hinein. „Wir haben die ursprüngliche Zeit und deren Rhythmik verändert; haben sie einer Beschleunigung unterworfen“, sagt Kampits. In der Arbeitswelt geht es um mehr Produktivität, um den Versuch, effizienter zu sein. Immer mehr Druck lastet auf den Beschäftigten, in kürzester Zeit möglichst große Leistungen zu erbringen. Jüngste Fälle von Überwachung der Beschäftigten an ihrem Arbeitsplatz machen klar, unter welchem Druck Arbeitnehmer heute stehen. Wer mit der Beschleunigung nicht mitkann, geht unter oder wird gekündigt.

Keine Zeit zum Innehalten

Die Gründe für die Beschleunigung des Lebens liegen laut Kampits vor allem in der technologischen Entwicklung, besonders im Aufkommen des Computers. Innovationen wie die elektronische Datenübertragung haben tief schürfende Veränderungen in der Kommunikation wie im Zeitempfinden der Menschen provoziert: Hat man im Zeitalter des Briefverkehrs noch lange auf die Post gewartet, sich die Zeit zum Lesen genommen und schließlich – früher oder auch später – geantwortet, so ist man heute täglich mit Empfang und Versand zahlloser elektronischer Nachrichten beschäftigt. Zeit zum Innehalten und zur Reflexion über das Gelesene bleibt kaum.

Auch der Klagenfurter Zeitforscher Peter Heintel begründet die Beschleunigung unter anderem mit einer Dominanz der Technik, die in unserer Gesellschaft vorherrsche. Allerdings sieht er im Umgang des Menschen mit der Technik „widersprüchliche Dispositionen“. So haben die Menschen einerseits immer Beschleunigung gewollt, andererseits jedoch auch nach Sicherheit verlangt. Diese Beschleunigung erzwingt der Mensch heute auch in Bereichen, wo lange Zeit die Natur als Taktgeber fungierte. In der Landwirtschaft etwa war es um 1900 üblich, ein Schwein nach zwei bis drei Jahren zu schlachten. Heute wird dem Tier vor dem Gang zur Schlachtbank nur ein halbes Jahr gegönnt.

Wenn es darum geht, Herr über die eigene Zeit zu sein, stößt man jedoch schnell an Grenzen. „Wir werden wahnsinnig fremdbestimmt, auch wenn wir es gar nicht merken. Wir werden heteronom vereinnahmt von diesem irrsinnigen Tempo, das uns strukturell auferlegt wird“, klagt Peter Kampits. Einer der prägendsten Faktoren ist die Arbeit. Als „riesigen Zeitgeber“ – wie es der Zürcher Sozialpsychologe Michel Baeriswyl im Gespräch mit der Furche (siehe Seite 23) nennt – gliedert sie unseren Alltag in Arbeitszeit und Freizeit. Doch zwischen diesen beiden Zeitfeldern wird es zunehmend schwieriger, eine klare Trennlinie zu ziehen. Wenn die Arbeit auch in der Freizeit noch Gesprächsthema ist und diese überschattet, kann man kaum mehr sagen, wo die Arbeit aufhört und die Freizeit beginnt.

Doch auch Zeit im Übermaß ist problematisch. „Wir haben das Innehalten, dieses Einhalten verlernt“, so Kampits. In einem Gesellschaftsbild, das so sehr von der Arbeit geprägt ist, erscheinen diejenigen, die sich Auszeiten gönnen, als faul. Diese Einstellung liefert den Nährboden für eine Freizeitindustrie, die vom Tatendrang der Menschen lebt. In jedem Urlaubsort gibt es die Möglichkeit – sobald die Entschleunigung einsetzen sollte – sich wieder in Bewegung zu setzen. Wenn nämlich das gewohnt rasante Tempo auf nahezu Null geht, wird die überschüssige Zeit zur Herausforderung. „Pensionsgeschockte“ nennt Peter Kampits jene Menschen, die aus dem alles dominierenden Arbeitsleben aussteigen und sich in einem zeitlosen Raum wiederfinden. Wenn plötzlich der alles strukturierende Teil des Lebens wegfällt, muss der Tag nach anderen Faktoren geordnet werden.

Verlorene Muße

Im beschleunigten Alltag hat sich auch unser Vokabular verändert. Der Satz „Ich bin im Stress“ dient laut Michel Baeriswyl als Hinweis, gefragt zu sein. Andere Wörter haben wir dagegen fast völlig aus unserer Sprache verbannt. Der Begriff „Muße“ findet sich kaum mehr im Wortschatz unserer Gesellschaft. Wohl auch, weil das, was der Begriff beschreibt, keinen Platz mehr zwischen all den Terminen hat. Umso dringender sei es, so Kampits, den Begriff der Muße wieder positiv zu besetzen.

Allerdings reicht es nicht, nur nach einer allgemeinen Verlangsamung zu verlangen. Es wäre an der Zeit, zu erkennen, dass wir die Beschleunigung nicht rückgängig machen können, sondern lernen müssen, mit ihr umzugehen. Mehr denn je ist heute Selbstbewusstsein gefragt: Ein Selbstbewusstsein, das es erlaubt, auch im beschleunigten Alltag eine ruhige Minute zu finden, sich seine eigenen Auszeiten zu schaffen und zu realisieren, dass gewisse Dinge ihre Zeit brauchen. Der solcherart „Nichtstuende“ wird in einer Gesellschaft, die Multitasking als Tugend sieht, zum Revolutionär.

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