Am Ende war das Wort

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Sibirien ist Heimat vieler Völker und Sprachen. Einige davon sind aber bereits stark gefährdet.

Als Klawdija Plotnikowa starb, starb ihre Muttersprache mit ihr. Sie hatte einsam gelebt in einem sibirischen Holzhaus, und nur noch mit Gott und mit ihrer Kuh Kamassisch gesprochen. Bis Forscher sie in den 80er Jahren entdeckten, untersuchten und feierten. Sie machten Aufzeichnungen über diese kleine samojedische Sprache und bewahrten sie dadurch vor dem völligen Vergessen. Und Klawdija Plotnikowa wurde berühmt unter Wissenschaftlern. Aber sie war auch schon alt und sie war müde. Sie starb 1989 und nahm das Kamassische mit ins Grab. Von der Sprachgeschichte dokumentiert.

Assimilation ...

Viele der indigenen Völker Sibiriens wurden im Laufe der letzten Jahrhunderte assimiliert. Sowohl im Zarenreich als auch in Sowjetzeiten nahm man wenig Rücksicht auf kulturelle Besonderheiten von Minderheiten. Zwar wurden Verordnungen aus Moskau in etliche Sprachen übersetzt, doch parallel dazu durch Industrialisierung, Zentralisierung und Umweltsünden vielen indigenen Völkern die Lebensgrundlage entzogen. Die Folge waren Verarmung, Landflucht, Slumbildung in den Städten und Alkoholismus - keine guten Voraussetzungen für die Pflege überlieferter Traditionen und kleiner Sprachen.

Selbst größere Völker wie die immerhin um die 400.000 zählenden Burjaten, ein Mongolenvolk am Baikalsee, blieben von der Russifizierung nicht verschont. Viele Burjaten in der Hauptstadt Ulan-Ude sprechen heute viel besser Englisch als Burjatisch. Nur in den Dörfern, wo zum Teil ausschließlich Burjaten leben, bestimmt ihre Sprache auch den Alltag. Ansonsten spricht man lieber Russisch. Das ist eben praktischer.

... trotz neuen Bewusstseins ...

In den letzten zehn bis fünfzehn Jahren beginnt man sich in der russischen Öffentlichkeit allmählich wieder für die Zwergvölker und Zwergsprachen zu interessieren und ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass hier ganze Kulturen unwiederbringlich verloren gehen könnten. Für einige Ethnien kommt diese Wende wahrscheinlich zu spät, ihre Sprache und Kultur sind dem Untergang geweiht und können nur noch ein paar Erinnerungsmale hinterlassen, Texte und Lieder, die von Forschern gesammelt und dokumentiert werden. So ergeht es etwa dem Tatarenvolk der Chulym. Von den 400 verbliebenen Angehörigen sprechen nur noch etwa 40 die Sprache ihrer Ahnen als Muttersprache. Tendenz fallend, allein schon mangels Gesprächspartnern.

Auch ist es bei allem theoretischen Verständnis und Interesse an Zwergsprachen und -völkern nach wie vor meist ein gesellschaftlicher Hemmschuh, sich zu einem von diesen zu bekennen. "Wenn ich mit meinen Freunden in Chanti-Mansisk auf der Straße Mansi spreche, dann oute ich mich als Landpomeranze. Also reden wir lieber Russisch." - Nadja, eine Wogulin auf Auslandssemester in Ungarn, genießt ihre Budapester Zeit in vollen Zügen, hier ist sie exotisch und gern gesehen. Immerhin sind die Wogulen (Mansi) und die Ostjaken (Chanti) die engsten Sprachverwandten der Ungarn. Mit der Ähnlichkeit der Sprachen ist es aber trotzdem nicht weit her. Zu Hause zählt Nadja zu einer Minderheit. Was schick und urban ist, ist russisch, deshalb haben bereits zwei Drittel der rund 12.000 Mansi den Sprachwechsel zum Russischen vollzogen.

... gefährdet Zwergsprachen ...

Als sehr gefährdet gilt auch das weitschichtig verwandte Enzisch, doch besinnen sich die Enzen, eines der kleinsten Völker Sibiriens, nun doch wieder verstärkt auf ihre Wurzeln. Bei der Volkszählung 1989 gaben rund 200 Menschen enzische Abstammung an, 2002 waren es bereits etwa 300. Das ist immerhin ein Zuwachs von 50% - was aber nicht heißt, dass die Enzen einen urplötzlichen Babyboom feiern, sondern vor allem, dass viele Enzen, auch JenissejSamojeden genannt, nun wieder gerne Enzen sind und sich auch offiziell dazu bekennen. Enzisch als Muttersprache spricht allerdings auch nur ein knappes Drittel von ihnen.

... und größere Kulturen ...

Auch vergleichsweise große Völker wie die Ewenken oder die Jakuten im hohen Norden haben mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Die Jakuten (über 300.000 Menschen) wurden von der Gesellschaft für bedrohte Völker bereits auf die Liste der bedrohten Völker gesetzt und die laut Volkszählung 2002 gerade einmal 35.527 Menschen zählenden Ewenken leben über ein Gebiet verteilt, das größer ist als Europa. Da ist es kein Wunder, wenn nur noch die Hälfte von ihnen Ewenkisch spricht. Schließlich wollen sie sich ja auch mit ihren Nachbarn verständigen, und das könnten Chinesen, Burjaten, Mongolen, Russlanddeutsche, Jakuten, Mansen, Chanten, Ewenen, Niwchen ... oder Russen sein. Und da angesichts der sibirischen Bevölkerungsdichte die Nachbarn ohnehin oft nicht eben nebenan wohnen, will man sich mit ihnen wenigstens gut verstehen, wenn man sie trifft.

Ein ewenkisches Wort hat es aber sogar bis in unseren Sprachraum geschafft: Schamane.

Viele der (nicht nur sibirischen) Zwergsprachen sind nicht zuletzt deshalb bedroht, weil sie keine Schriftsprachen sind und deshalb eine Reihe von Bedürfnissen einer modernen Gesellschaft nicht erfüllen können. Ein Ausweichen auf eine lingua franka ist dabei ein folgenschwerer Ausweg: dadurch wird der indigenen Sprache die Anpassung an die Gegenwart weiter erschwert und die Notwendigkeit ihrer Weiterentwicklung verschleiert.

... bis sie aussterben

Noch gibt es 6.000 bis 10.000 Sprachen auf der Welt - je nachdem, wo die Grenze zwischen Sprache und Dialekt gezogen wird, es gibt keine einheitlichen Kriterien dafür -, aber fast jede Woche stirbt eine von ihnen. Und mit jeder Sprache stirbt ein Stück Welt, Phantasie und Vorstellungskraft.

Wenn ein Mensch einmal nur noch mit Göttern und Tieren in seiner Muttersprache sprechen kann, dann nimmt er eine ganze Kultur mit ins Grab.

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