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Antipoden im Austromarxismus

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»IE ÖSTERREICHISCHE REVOLUTION. Von Otto Bau e r. Verlag der Wiener Volksbuchhandlung, Wien, 312 Seiten, S 145.— / MENSCH UND GESELLSCHAFT. Von Karl Renner. Verlag der Wiener Volksbuchhandlung, Wien, 398 Selten, S 168.—.

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»IE ÖSTERREICHISCHE REVOLUTION. Von Otto Bau e r. Verlag der Wiener Volksbuchhandlung, Wien, 312 Seiten, S 145.— / MENSCH UND GESELLSCHAFT. Von Karl Renner. Verlag der Wiener Volksbuchhandlung, Wien, 398 Selten, S 168.—.

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1923, kurz nach Beendigung der ersten „schwarz-roten“ Koalition in der österreichischen Geschichte, erschien Bauers Auseinandersetzung mit dem Untergang der Monarchie und der Entstehung der Republik, in einer Zeit, in der — nach der Terminologie Bauers — die „Restauration der Bourgeoisie“ die Periode des „Gleichgewichts der Klassenkräfte“ bereits abgelöst hatte. Tritt man heute an das neu aufgelegte Werk Bauers heran, erscheint vieles an der brillanten und schockierenden Direktheit Bauers fremd, ja überholt. Dazu zählt nicht nur das Fehlen eines österreichischen Patriotismus (Österreich — der „verhaßte Name“), sondern auch Grundsätzliches an der Geschichts- und Staatsauffassung Bauers. Einen Zugang findet man am besten, wenn man das Buch als Zeitdokument auffaßt, in dem versucht wird, Geschehnisse, an deren Gestaltung der Autor mitgewirkt hat, historisch einzuordnen und zu beurteilen.

Und hier erweist sich Bauer als Vereinfacher, zwar als glänzender Vereinfacher, aber doch als ein Richter der Geschichte, der diese in das Prokrustesbett einer starren und formelhaften Geschichtsauffassung preßt. So war der erste Weltkrieg für Bauer eine Auseinandersetzung der westlichen Bourgeoisdemokraten mit den oligarchischen Militärmonarchien Zentraleuropas. Da Bauer orthodox-marxistisch denkt und wertet, begrüßt er den Sieg der Entente als den Ausdruck des notwendigen Fortschritts der Geschichte, als ein Näherrücken an das als unausweichlich erkannte Umschlagen der bürgerlichen Scheindemokratie in die vollendete sozialistische Demokratie. Konsequent gedacht heißt das, daß die Mehrheit der britischen, französischen und die Minderheit der italienischen Sozialisten (Mussolini!), die prinzipiell die Kriegspolitik ihrer Regierungen unterstützen, im Einklang mit den historischen Notwendigkeiten und daher richtig gehandelt hätten, die deutschen und österreichisch-ungarischen Sozialisten aber, die das gleiche wie ihre Genossen im Westen taten, gegen die historischen Notwendigkeiten und damit falsch gehandelt hätten.

Solche Schematisierungen zeigen, wo Bauers politische Theorien am anfechtbarsten sind. Bauer sieht im Staat immer nur einen Ausdruck des Klassenkampfes, der Staat ist im allgemeinen nichts anderes als ein „Vollzugsinstrument der jeweils herrschenden Klasse“. Dort, wo er unter Berufung auf Marx und Engels diese Vereinfachung erweitert, wo er eine Theorie des Staates auf der Entwicklungsstufe des berühmten „Gleichgewichts der Klassenkräfte“ entwirft, sieht er ebenfalls nur Klassenkräfte wirksam werden. Daß der Staat, wie Hans Kelsen gegen Marx nachgewiesen hat, immer Komponenten hat, die vom jeweiligen Kräfteparallelogramm der Klassen unabhängig sind, zu dieser Auf fassung gelangt Bauer nicht. Wieviel Richtiges und Interessantes auch in der marxistischen Staatsanalyse stecken mag — die Überbewertung, die Ausschließlichkeit einer historischen und soziologischen Betrachtung an Hand der marxistischen Klassen- kampftheorie verhindert bei Bauer die Einsicht, die der Revisionismus gewinnt: Keine Gesellschaft ohne Ordnung, keine Ordnung ohne Recht, kein Recht aber ohne Sanktion; Recht und Sanktion sind aber Staat, der somit jedem System immanent ist.

Während des zweiten Weltkrieges, in der „inneren Emigration“, schrieb Karl Renner an einem Grundriß einer Soziologie, der die ganze Menschheitsgeschichte umfassen sollte, der aber — die Tätigkeit Renners in der zweiten Republik verhinderte die Beendigung — leider unvollendet blieb. Jetzt liegt eine Neuauflage des von Jacques Hannak ausführlich eingeleiteten Werkes vor, das das wissenschaftliche Gesamtwerk des politischen und ökonomischen, des soziologischen und juristischen Theoretikers Renner zusammenfaßt. Wenn man dieses Buch liest, kann man die Weite des Denkens Renners erkennen und die Bedeutung seiner Persönlichkeit für den Sozialismus, die Demokratie und für Österreich abschätzen.

Renner enttäuscht dort, wo er Probleme der Metaphysik in der menschlichen Gesellschaft streift. Manche Argumente grenzen in ihrer Oberflächlichkeit an einen Vulgärmaterialismus, so etwa, wenn er eine eigenständige Funktion des Religiösen in der Entwicklung der Menschheit leugnet: „Mag die letzte bestimmende Ursache aller Geschlechtsverhältnisse im Sexualtrieb liegen, darüber wie er sich auslebt, entscheiden die Umstände,

die wir vorweg als wirtschaftliche bezeichnen können“ (S. 49). Hier werden ganz einfach religiöse Bestimmungsfaktoren in ökonomische aufgelöst. Renner zeigt sich auch stark von deutschnationalen Geschichtsumbiegungen infiziert. So spricht er von einer „deutschen Kaiserwürde“ der Habsburger, um ein Beispiel zu nennen.

Die zukunftsweisende Kraft seines Denkens zeigt Renner als Rechtsund Staatstheoretiker. Für Renner ist das Recht nicht eine auf ein zeitloses und jederzeit erkennbares Ordnungsprinzip rückführbare Institution im Sinn des Naturrechts, aber auch nicht eine bloße Spiegelung ökonomischer Machtverhältnisse ohne Eigengesetzlichkeiten. Das Recht ist in einer viel komplizierteren Form mit den sozio-ökonomischen Tatsachen verknüpft, es ist „sozialer Prozeß“. „Der Staat ist niemals bloß der Vollzugsausschuß der herrschenden Klassen und das Recht niemals bloß deren artikuliertes Interesse“ (S. 253). Das Recht wird zum bejahten Instrument des politischen Fortschritts, seine Benützung bedeutet die Herrschaft über die (ebenfalls im Gegensatz zu Marx und v. a. Engels zu bejahende) Staatsmaschine. So wird der Staat zum vielzitierten „Hebel des Sozialismus“. Hier ist die geistige Verwandtschaft von Renner und Kelsen besonders deutlich. Ist der heutige Staat auch eine „Übergangserscheinung der sozialen Entwicklung“ (S. 279), so geht der Übergang aber nicht in Richtung einer Aufhebung des Staates nach Inbesitznahme der

Staatsmaschine durch die ausgebeutete Klasse des Proletariats, sondern der Nationalstaat muß zum Weltstaat werden. Renner, einst der Verteidiger des Gedankens eines übernationalen Österreichs, wird zum Visionär des demokratischen Weltstaates.

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