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Antisemitismus in Frankreich?

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Der Direktor des französischen Instituts der öffentlichen Meinung (Institut Francais d'Opinion Publique), Roland Sadoun, hat kürzlich in der Monatsschrift „Le Nouvel Adam“ das Ergebnis einer sehr umfangreichen Untersuchung über den Antisemitismus in Frankreich veröffentlicht Obwohl der Verfasser zum Schluß kommt, daß das jüdische Problem keine nennenswerte Rolle für die Franzosen spiele, haben doch verschiedene Zahlenangaben, insbesondere in jüdischen Kreisen —, gegenwärtig leben in Frankreich rund 500.000 Juden, deren Mehrheit die französische Staatsangehörigkeit besitzt — Aufsehen erregt. Eine Feststellung hat sogar etwas Unruhe ausgelöst, nämlich die Tatsache, daß zehn Prozent der Franzosen als „erklärte Antisemiten“ bezeichnet werden müßten, während zwanzig Prozent „ernste antisemitische Charakteristiken“ aufweisen. Dabei erscheint besonders schwerwiegend, daß ein Prozent der Bevölkerung, soweit man die Befragungsaktion als repräsentativ für das gesamte Volk ansehen darf, in der Extremitation von mehreren Millionen Juden während des letzten Krieges „letztlich eine heilsame Maßnahme“ erblickt. Demnach würde also nahezu eine halbe Million Menschen die „Endlösung“ gutheißen.

Freilich möchten wir, bevor wir die Analyse des französischen Instituts der öffentlichen Meinung vorstellen, darauf hinweisen, daß ein Großteil der Befragten keine klare Vorstellung vom Judentum hatte und daß daher auch die antisemitischen Tendenzen in ihrem Wesen verschwommen und verworren wirken. So äußerten viele Franzosen die Meinung, daß Rockefeller, Goethe, Rasputin, Albert Schweitzer, Pontius Pilatus, John Kennedy und Pasteur Juden gewesen seien. Manche der Befragten machten die Juden für den Tod der Jeanne d'Arc verantwortlich! Trotz dieser grotesken Vorstellungen scheint es uns nicht angebracht, den Antisemitismus in seiner französischen Prägung zu bagatellisieren. Der ehemalige französische Ministerpräsident Mendes-France, der zu Frankreichs prominentesten

Juden zählt, sagte dem Verfasser dieser Abhandlung gelegentlich einer Aussprache über die Judenverfolgungen im nationalsozialistischen Deutschland, daß es keine „guten“ und „schlechten“ Völker gebe.

Der belastende „Einfluß“

Was hat nun die Meinungsbefragung im einzelnen ergeben? 13 Prozent verweigerten jede Stellungnahme, 30 Prozent sahen das unterschiedliche Merkmal der Juden darin, daß es sich bei ihnen um Menschen mit einer „besonderen Religion“ handle. 48 Prozent warfen ihnen eine „betonte Vorliebe für das Geld“ vor, 11 Prozent ihre Isolierung und nur 7 Prozent sahen in den Juden Vertreter einer spezifischen Rasse. 21 Prozent erklärten, daß Juden „Menschen wie alle anderen“ seien, jedoch 22 Prozent äußerten den Wunsch, daß eine möglichst hohe Zahl der Juden nach Israel auswandern möge. Auf die Frage, ob man zugleich Franzose und Jude sein könne, antworteten 60 Prozent mit „Ja“, unter der Voraussetzung, daß die in Frage kommende Schicht französischer Abstammung sei. 19 Prozent sahen in ihnen weniger bewußte Franzosen als in den Nicht-juden.

Die Ausrottung von über 5 Millionen Juden während des Krieges wurde von 77 Prozent der Befragten als „schweres Verbrechen“, von

19 Prozent als „eine blutige Kriegserscheinung unter anderen“, von 1 Prozent als „nützliche Maßnahme“ bezeichnet. 3 Prozent wichen einer direkten Stellungnahme aus.

31 Prozent betonten die zahlenmäßig starke Vertretung der Juden in der Politik. 55 Prozent dieser Kategorie erblickten darin eine negative Erscheinung. 58 Prozent hoben den starken Einfluß der Juden in der Finanz hervor, was von 45 Prozent als negativer Faktor bewertet wurde. Der starke Einfluß der Juden im Handel wurde von 81 Prozent der Befragten unterstrichen. Von ihnen bewerteten 38 Prozent dieses Phänomen als schädlich.

Zahlen reden

Interessant ist beim Ergebnis der Umfrage, daß die negative Einstellung zum Judentum bei den jungen Jahrgängen progressiv abnimmt. Auf die Frage: Würden Sie einen jüdischen Staatspräsidenten, Schwiegersohn (Schwiegertochter), Abgeordneten, Vorgesetzten oder Arzt zu vermeiden suchen, antworten mit „Ja“ die folgenden Altersstufen (siehe Tabelle 1).

In der Landwirtschaft ist die Ablehnung gegenüber dem Judentum am stärksten ausgeprägt, und hier wiederum besonders in Nordwestfrankreich.

Die gleichen Fragen wurden mit „Ja“ von den folgenden Kategorien beantwortet (siehe Tabelle 2):

Generell kann man sagen, daß die Feststellung eines Teils der Befragten, daß es „zu viele“ Juden in Frankreich gebe, nicht sehr wesentlich ins Gewicht fällt, wenn man sie mit der Ablehnung anderer nationaler oder rassischer Kategorien vergleicht. Hier ist die Vergleichsmethode des Direktors Sadoun fraglos sehr schematisch, doch es kommt ihm offensichtlich darauf an, nachzuweisen, daß sich die französischen Sympathien und Antipathien nicht in einem herkömmlichen Rahmen definieren lassen.

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