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Armut hat viele Gesichter

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In unserer Gesellschaft macht sich eine brisante Entwicklung bemerkbar: Immer mehr Menschen sind in ihrer materiellen Existenz gefährdet. 30.000 fallen jährlich unter die Armutsgrenze, schlägt die Caritas Alarm.

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In unserer Gesellschaft macht sich eine brisante Entwicklung bemerkbar: Immer mehr Menschen sind in ihrer materiellen Existenz gefährdet. 30.000 fallen jährlich unter die Armutsgrenze, schlägt die Caritas Alarm.

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Arbeitslosigkeit, Sparpaket, Strukturanpassungsmaßnahmen und Reduktion des Sozialnetzes haben viele, und nicht nur ältere Menschen, in eine für sie bedrohliche, weil existenzgefährdende Situation gebracht: in Armut und damit verbunden in die Gefahr der sozialen Ausgrenzung.

Die Zeiten, in denen Armut keine Schande war, sind vorbei. Unsere Gesellschaft hat sich verändert. Heute „ist” man nur jemand, wenn man fest im System verankert ist, an seinem Entwicklungsprozeß teilnimmt und nicht „draußen” steht. Selbstwertgefühl scheint nur mit Erfolg innerhalb dieses Prozesses denkbar- sobald man „aus den Schienen” geworfen ist, schmilzt auch der Selbstwert. Armut wird heute vielfach als Schande gesehen; weil in ihr der „Versager” zu erkennen ist. Heute käme niemand mehr auf die Idee, Armut zur Ideologie oder zum Programm zu erheben, wie einst Franz von Assisi oder ein Buddha. Unsere moderne Industriegesellschaft hat die materiellen Güter und den mit ihnen verbundenen sozialen Status in den Mittelpunkt der menschlichen Existenz gestellt - der Wert des einzelnen wird nach seinem Erfolg oder Mißerfolg in eben dieser Gesellschaft gemessen. Anders als früher werden heute die Ansprüche des einzelnen nicht an seinen eigenen Bedürfnissen, sondern an denen der Gesellschaft, in der er lebt, gemessen.

Die Hauptgruppe unter den Armutsgefährdeten stellen Familien mit Kindern und nur einem Verdiener dar, sofern Armut mit der Einkommenshöhe definiert wird (siehe Kasten).

Ein Merkmal, das gehäuft bei armutsgefährdeten Haushalten auftritt, ist der Ausbildungsstatus. Mehr als vier Fünftel der sozial Schwächsten haben maximal eine Pflicht-schulausbildung. Bei Bauern und Arbeitern kommt Armut, gemessen am Einkommen, doppelt bis zweieinhalbmal so oft vor als bei Angestellten, Beamten und Selbständigen. Innerhalb dieser sozialen Gruppen konzentriert sich Armut stark auf Personen, die Hilfstätigkeiten verrichten. Dieses soziale Gefälle zeigt sich auch bei den Pensionisten.

Alle Faktoren wie soziale Schicht, Schulbildung, Haushaltsgröße und Arbeitsmarktverhalten sind aber regional sehr unterschiedlich ausgeprägt. In Agrargemeinden ist die Armutsquote doppelt so hoch wie in Mittel- und Großstädten. Auf Randgemeinden und Kleinstädte entfallen mehr als 70 Prozent aller Einkommensarmen. Am Land sind die Ausbildungschancen geringer, die Haushalte größer, die Kinderbetreuungsmöglichkeiten und Arbeitsmarktchancen weit schlechter als in Ballungsräumen. Armut hat also auch ein ländliches Gesicht!

Armut hat aber auch ein weibliches Gesicht, denn betroffen sind vor allem vor allem Pensionistinnen und Alleinerzieherinnen. Die Armutsquote für sie ist um die Hälfte höher als im Durchschnitt aller Haushalte.

Armut hat aber auch ein ethnisches Gesicht: In Österreich sind ausländische Arbeitskräfte aus dem Süden und Osten meist als unqualifizierte Kräfte tätig. Ihre Beschäftigungen sind befristet, wenn sie arbeitslos werden, sind sie bei den Sozialleistungen schlechter gestellt. Notstandshilfe steht den meisten nicht zu, und auch die Zugangsmöglichkeiten zur Sozialhilfe stellen eine Ausnahme dar. Das kommt in den Statistiken nur teilweise zum Ausdruck, da der Weg in die Illegalität beim Ausschluß aus dem regulären Arbeitsmarkt oft vorgezeichnet ist. Es gibt aber trotzdem einige statistische Anhaltspunkte:

Während zwölf Prozent aller Österreicher als einkommensarm eingestuft werden, ist die Quote bei den in Österreich lebenden Türken und Jugoslawen doppelt so hoch (23 Prozent).

Die meisten armutsgefährdeten Personen leben im erwerbsfähigen Alter schon in armutsgefährdeten Haushalten. Armutsgefährdete Pensionisten kennen dieses Schicksal schon meist aus ihren früheren Lebensphasen.

Anton Rauscher, Professor für christliche Gesellschaftslehre an der Universität Augsburg und Direktor der katholischen sozialwissenschaftlichen Zentralstelle in Mönchengladbach, bringt das Problem auf den Punkt: Armut ist immer eine Herausforderung für die Mitmenschen, denn wir sind alle zur Solidarität verpflichtet. Manche machen es sich zu leicht, wenn sie von der Gemeinschaft nur die Erhöhung der Regelsätze fordern. Armut beziehungsweise die neue Armut hat viele Gesichter: materielle Armut, die Armut der Isolation, Mangel an medizinischer Versorgung, Altersarmut und die Armut derjenigen, die sich mit der Gründung des eigenen Haushalts schwertun. Daß wir alle diesen Gruppen gegenüber eine moralische Verpflichtung haben, steht außer Frage, denn sonst geraten sowohl die Armen als auch die von der Sozialfrage Betroffenen an den Rand der Gesellschaft. Das ist die eigentliche Herausforderung für die sozialen Einrichtungen, für die

Menschen und für die Politik.

Wenn es um materielle Armut geht, muß man zunächst materiell helfen. Die Armut der Vereinsamten ist ein Zuwendungsproblem in einer überrationalisierten Gesellschaft, man muß also Menschen finden, die sich um die Betroffenen kümmern.

Da aber der Löwenanteil der neuen Armut auf die Arbeitslosigkeit entfällt, müssen wir viel erfinderischer und mutiger bei der Suche nach neuen Arbeitsplätzen sein.

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