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Arztliches Proletariat

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Vereinzelte Mitteilungen wiesen in letzter Zeit auf ärztliche Berufsprobleme hin, die mit Rücksicht auf ihre bevorstehende, einschneidende Regelung auch für die breite Öffentlichkeit von Interesse sind. Eine der wichtigsten Sorgen des Ärztestandes ist zweifellos die drohende, leider bereits unvermeidbar gewordene Überfüllung an Berufsangehörigen. Diese Bekanntgabe wird Verwunderung auslösen, da man bisher geneigt war, gerade das Gegenteil anzunehmen.

Das im Nachstehenden verwendete Zahlenmaterial stammt aus Erhebungen der Ärztekammern in Wien und den Bundesländern. In ganz Österreich sind derzeit rund 9000 Ärzte in den verschiedensten Berufssparten tätig, davon allein in Wien 3000. Nicht ganz 1500 Ärzte befinden sich noch in Kriegsgefangenschaft. Weitere 3000 Kollegen leben in der Emigration. Ihre Sehnsucht nach der Heimat und ihr Wunsch am Wiederaufbau des Vaterlandes gebührend teilzunehmen, ist verständlich. Trotzdem ist anzunehmen, daß kaum die Hälfte nach Österreich zurückkehren wird, da die emigrierten Kollegen schwerlich ihre gesicherten Stellungen im Ausland gerne aufgeben werden wollen. Somit ist mit einer Zahl von 12.000 Ärzten zu rechnen. Bedenkt man nun weiter, daß gegenwärtig an den österreichischen Universitäten insgesamt 7000 medizinische Hörer inskribiert sind, allein 3800 in Wien, von denen jährlich ungefähr 1000 zum Doktor der gesamten Heilkunde promoviert werden, so ist es keine Übertreibung, von einer drohenden Katastrophe infolge einer außerordentlichen Berufsüberfüllung zu sprechen. Berufene Stellen haben errechnet, daß für 1000 Einwohner ein praktischer Arzt eingesetzt werden kann. Dieser Schlüssel ist ohne Zweifel das äußerste Existenzminimum für den Praktiker. Für ganz Österreich bedeutet es die N i e d e r 1 a s s u n g s m ö g 1 i c hke it von 6000 Ärzten. Dazu kommt noch der Bedarf an Fach-, Zahn-, Amts- und Spitalsärzten, der mit rund 4000 überschießend gedeckt erscheint. Für den Nachwuchs der kommenden Jahre bleibt nach diesen Berechnungen kein Platz mehr. Die Gefahr, die dieser Überschuß mit sich bringt, ist ernst. Wir nennen sie die Gefahr des „ärztlichen Proletariats“. Nicht der Gedanke allein, daß ein Zuviel an Berufsangehörigen die materielle Existenz des Arztes untergräbt, ist alarmierend, sondern die Wahrscheinlichkeit, daß die Moral und Ethik des Arztes gefährdet wird. Unabsehbarer Schaden für das Gemeinwohl des Volkes kann daraus entstehen und die Versandung unserer traditionellen, hohen medizinischen Kultur. Es ist am Platze, von dieser kritischen Gestaltung der Bevölkerung Kenntnis zu geben.

Die. manchmal vernehmbare Meinung, die Ärzte seien infolge-eines Ärztemangels überbürdet, so sehr, daß sie durch ihre überfüllten Ordinationen am rechtzeitigen Hauskrankenbesuch gehindert seien, findet andere Erklärungen. Die Patienten, die durch die Jahre des Krieges einen Arzt schätzen gelernt haben, schenken ,ihr Vertrauen nicht leicht dem noch unbekannten, neuen Kollegen, der, aus Krieg und Gefangenschaft heimgekehrt, nun seine Praxis eröffnet hat. Mit dem gleichen unberechtigten Mißtrauen beobachtet man zunächst auch jene jungen Ärzte, die sich nun, nach Beendigung ihrer Spitalsausbildung niederlassen. Die Ordinationen der bisher gewohnten Ärzte sind somit überfüllt, zumal der Medikamentenmangel ein häufigeres Aufsuchen der Sprechstunden notwendig macht. Bedenkt man noch, daß selten ein Arzt über ein Auto verfügt und daß die körperlichen Kräfte eines Arztes — erst recht bei der herrschenden Ernährungslage — ihre Grenzen haben, so wird man die zeitbedingten Mängel verstehen.

Die nüchternen Zahlen und sachlichen Überlegungen lassen erwarten, daß spätestens in fünf Jahren, also nach Studienabschluß der derzeit inskribierten Medizinstudenten, wahrscheinlich 4000 Doktoren der Medizin in Österreich sein werden, die keine Aussicht haben, auf Grund ihres Doktordiploms ihren Lebensunterhalt zu erwerben. Es ist begreiflich, daß Vorschläge zur Abhilfe von allen Seiten vorgebracht werden. Auch, die neuen Ärztegesetze werden in geeignetem Maß diesem Umstand Rechnung tragen . müssen. Fest steht, daß der weitere Zustrom zum Medizinstudium vermindert werden muß. Dies kann nicht durch einen sogenannten Numerus clausus erreicht werden, da die Freiheit der Wissenschaft unantastbarer Grundpfeiler unseres Geisteslebens bleiben muß und dieses nicht mit Gewalt reglementiert werden kann. Ein Absinken der abnormen Zahlen der Studierenden wird durch rechtzeitige Aufklärung und Berufsberatung der Maturanten an den Mittelschulen und ihrer Eltern erreicht werden müssen. Es muß das Luftschloß zerstört werden, daß das medizinische Doktordiplom die Anweisung für ein besseres Leben mit Auto und Villa und Dienstpersonal sei; daß man damit verhältnismäßig leicht eine angesehene gesellschaftliche Stellung und die Garantie für einen ruhigen Lebensabend erreicht. Nahezu das Gegenteil wird in vielen Fällen Tatsache werden.

In Zukunft, so fürchte ich, wird die Existenzentwicklung eines Arztes folgendes Bild bieten: Der Jungarzt wird zunächst zwei Jahre ohne Vergütung in einem Spital zu arbeiten haben. Die nächsten zwei Jahre seiner Spitalstätigkeit bekommt er vielleicht die Stelle eines Sekundararztes mit dem Bruttogehalt von ungefähr 300 S. Ohne Ersparnisse wird er in die Praxis gehen. Eine Niederlassung erfordert aber wenigstens ein kleines Kapital. Das Monatseinkommen des Praktikers wird, gleichgültig welches Verrechnungssystem eingeführt wird, zwischen 700 bis 1000 S schwanken. Bei Abrechnung von Strom, seines Ordinationsbedarfes, der Amortisation teurer Apparaturen und der Haushaltshilfe — also unumgänglich notwendiger Betriebsspesen — verbleibt dem Arzt künftig das Einkommen eines mittleren Beamten ohne akademischer Bildung, ohne dessen Dienstvorteile, dessen geringere Verantwortlichkeit und ohne bezahlten Urlaubsanspruch. Daß eine Reihe von Primarii, Dozenten und Professoren auf Grund ihrer Spezialleistung und des damit verbundenen Rufes, an diesen Gehältern bemessen, auch weiterhin erheblich bessere Einkommen haben werden, ist verständlich, doch ist die Zahl dieser medizinischen Spitzen für unsere Betrachtung unmaßgeblich.

So Ist dietage. “An 3er Universität Kann das Problem nicht gelöst werden. Das oberste Ziel der akademischen Behörden ist die Pflege der “Wissenschaft. Der Stolz jedes Universitätslehrers wird es sein, die Leistungen in seinem Fach allmählich auf das Niveau jener Zeit hinaufzuführen, die die medizinische Schule Österreichs über die Grenzen hinaus berühmt gemacht hat. Es mag sein, daß dabei Unbefähigte ausgeschieden werden; doch kann dies für die Gesamtbetrachtung der Lage keine nennenswerte Veränderung bedeuten.

Eine der kritischen Lage entsprechende Steuerung des Werdeganges eines Arztes wird den Är z tek a-mm er n zukommen. Die notwendigen Vorbereitungen hiezu sind im Gange. Notwendig erscheint die Aufstellung eines Stellenplanes für ganz Österreich, der die maximale Aufnahms-fähigkeit an fertigen Ärzten für Stadt und Land, Spital und Praxis festlegt. Nach end-gültiger Besetzung dieser Stellen und nach Ermittlung der Zahl der Berufsangehörigen, die jährlich durch Tod, Krankheit oder Erreichung der Altersgrenze aus dem Dienst ausscheiden, kann dann der weitere Bedarf verlautbart werden. Es ist m BetracEt zu ziehen, die Ausübung des ärztlichen Berufes nicht bloß an die Erreichung des Doktorgrades zu knüpfen , sondern einzeln, nach Bedarf des öffentlichen Wohles die Venia practicandi auszusprechen, eine Art Kpn-zessionierung des Berufes unter Kontrolle der Ärztekammer. Der Eintritt in die wissenschaftliche Laufbahn bleibt dabei jedem unbenommen. Der Arzt, der nicht die Zulassung zur Ausübung der ärztlichen Praxis erreicht hat, wird zu überlegen haben, ob er die dornenreichen Wege der Wissenschaft und Forschung gehen oder ob er sich Berufszweigen zuwenden will, in die ärztliches Wissen eingebaut werden kann. Noch haben wir keine Veranlassung, vielleicht falsche Hoffnungen auf die Möglichkeit des Auswanderns in arztarme Kolonien und Länder zu erwecken. Einzelne Stellen befassen' sich aber bereits auch mit diesem Gedanken, zu dem der gute Ruf unserer medizinischen Schule uns berechtigt.

Die Tatsachen sind schmerzlich und alle zur Abhilfe Berufenen zu schwerer Verantwortlichkeit verpflichtend. Wir dürfen kein ärztliches Proletariat schaffen.

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