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Ausbruch aus dem Ghetto

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Eine bestimmte politische Propaganda hat das Schreckgespenst von zu vielen Ausländerkindern an Österreichs Schulen erscheinen lassen. Es gibt jedoch keine Gespenster.

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Eine bestimmte politische Propaganda hat das Schreckgespenst von zu vielen Ausländerkindern an Österreichs Schulen erscheinen lassen. Es gibt jedoch keine Gespenster.

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Im Umfeld der Jörg-Haider-Ini- tiative eines (Volks) begehrens zur Eindämmung einer vermeintlichen Ausländerflut in Österreich standen auch unsere Schulen unter Polit-Beschuß: das Unter-richtsministerium registrierte damals eine enorme Anzahl von offenbar der politischen Propaganda aufgesessenen empörten Anrufern, die den „Wahnsinn“ beklagten, der da an Österreichs Schulen passiere. Man monierte das Eingreifen der Behörde gegen das Schreckgespenst von messerstechenden Ausländerkindern an unseren wohlbehüteten Bildungseinrichtungen. Peter Seitz vom Unterrichtsministerium, mit diesem Problemkreis wohl vertraut, stellte damals fest, daß auf seine Gegenfrage, was der Anrufer denn eigentlich über die ganze Situation wisse, nur Schweigen zu „hören“ war.

Viele Eltern reagierten auf die angeblich durch vermehrte Ausländerkinder so schlechte Situation mit einem Run auf Privatschulen. Heute, fünf Jahre nach Beginn der sicherlich dramatischen Explosion der Zahlen von Schülern mit nichtdeutscher Muttersprache an Österreichs Schulen, könne man feststellen, daß hier „ein großer Wurf gelungen ist“, so Peter Seitz zur FURCHE.

„Die Schule hat sofort reagiert, Schulversuche wurden eingerichtet. Bis 1989 wurde auf diesem Gebiet nicht sehr viel ausprobiert. Aber man war flexibel und hat etwas eingeführt, was es im bisherigen Lehrplan nicht gegeben hat.“ Es wurden Begleitlehrermodelle entwickelt, die den Einsatz von zusätzlichem Hilfspersonal ermöglichten. Heute stehen 1.500 zusätzliche Lehrer für die Integration von „Kindern mit nichtdeutscher Muttersprache“ zur Verfügung. Die Sprachregelung will vermeiden, daß man an den Schulen zwischen Österreichern und Ausländern unterscheidet. Es geht darum - so Seitz - kulturelle Schwierigkeiten auszuräumen, den Kindern die Scheu beim Sprachgebrauch zu nehmen und ihnen auch zu ermöglichen, später lesen und schreiben zu lernen.

Der durchschnittliche Anteil von Kindern mit nichtdeutscher Muttersprache in Wiener Schulklassen beträgt nach Seitz 50 Prozent. Natürlich hängt das von der Wohnsituation ab. Es gibt Schulen - etwa die Volksschule in der Neustiftgasse 100, im 7. Wiener Geineindebezirk, oder die Volksschule in der Ortnergasse 4, im 14. Wiener Gemeindebezirk — wo der Anteil der Kinder mit nichtdeutscher Muttersprache viel, viel höher ist.

Für Seitz kommt es in diesem Zusammenhang „auf die richtige Mischung“ an, damit Integration auch gelingen kann. Der Beamte führt als positives Beispiel die Schule in der Wolfgang Schmelzlgasse im 2. Wiener Gemeindebezirk an, einer des hohen Ausländeranteils wegen ohne großen Prestigewert gehandelten Gegend, wo sehr engagiert gearbeitet werde, „nicht trotz, sondern wegen der ausländischen Schüler“.

Besonders engagiert wird aber auch dort gearbeitet, wo das Mischungsverhältnis (aufgrund der Wohnsituation) nicht stimmt. Elsbeth Kazianka ist Lehrerin in einer 2. Klasse der Volksschule Wien/Neu- stiftgasse 100.

Unter 26 Schülern und Schülerinnen ist nur ein österreichisches Mädchen. „Diese Kinder sind natürlich nicht integriert“, erzählt Kazianka. „Sie haben weder in der Schule noch in der Freizeit österreichische Freunde. Ihre Freizeit verbingen sie in der Stadthallengegend oder in der nahegelegenen Lugner-City. In der Schule sind sie also unter sich und die Familien selbst wohnen ebenfalls in Ghettos. An den Wochenenden trifft man sich wieder nur mit Onkeln, Tanten, Cousins und Cousinen.“

Kazianka ist trotz der Integrationsschwierigkeiten von den „ausländischen“ Kindern sehr angetan. „Diese Kinder sind eine Wohltat gegenüber österreichischen Schulkassen“, weiß sie aus eigener Erfahrung. „Natürlich muß man Klein-Klein-Schritte setzen und extrem geduldig sein. Aber die Kinder sind sehr anhänglich und liebesbedürftig. Man muß sich nur den extremen Unterschieden in den Voraussetzungen stellen.“ (siehe nebenstehenden Beitrag).

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