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Auswege aus dem Parteien-„Duopol

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Die Spannung zwischen der Dynamik der Gesellschaft und der Statik des Staates in seiner gegenwärtigen Verfassung findet derzeit in Österreich wie in anderen Ländern wachsende Beachtung. Zwei Ereignisse haben diese Frage in diesen Tagen wieder in das Rampenlicht der Öffentlichkeit gerückt. Beide sind für die Betrachtung dieses Anliegens irgendwie charakteristisch: der Bericht Harry W. Johnstones aus der wirtschaftspolitischen Abteilung des US-Hochkom- missars über die „Einschränkung des Wettbewerbes in der österreichischen Wirtschaft“ und die Rede unseres Bundespräsidenten bei der geselligen Zusammenkunft der Staatsführung in seinen Amtsräumen.

Harry W. Johnstone kritisierte heftig die Tätigkeit der Kammer und des Gewerkschaftsbundes, deren „Ständige Wirtschaftskommission — vielleicht die machtvollste Institution in Österreich — weder durch die Verfassung, noch auf legislativem Weg durch das Parlament noch auf Verordnungswege“ ins Leben gerufen wurde, sondern bloß, durch ein formloses Übereinkommen der beteiligten Organisationen. Der österreichische „Kammerstaat“ gehe auf die „ständische Idee“ zurück. — Theodor Körner betonte, daß sich das Parlament die endgültige gesetzgeberische Arbeit von niemandem aus der Hand winden lassen dürfe, „von keiner politischen und keiner wirtschaftlichen Körperschaft, von keinem Gremium einzelner Stände, Berufe oder Schichten“. Und Vizekanzler Dr. Schärf sprach es in seiner Erwiderung ganz deutlich aus: „Am Parlamentarismus wird festgehalten und jeder Versuch einer Wandlung zum Ständestaat zurückgewiesen werden.“

Diese beiden Stimmen sind deshalb charakteristisch, da sie die Hauptrichtungen kennzeichnen, aus denen den sich im Schoße der Gesellschaft entfaltenden Selbstverwaltungskörpem Mißtrauen und Unverständnis begegnet: den Individualismus, der in der Selbstverwaltung eine Beschränkung der wirtschaftlichen Freiheit sieht, und der Kollektivismus, der darin eine Beschneidung der politischen Freiheit fürchten zu müssen glaubt.

Wo beide Sprecher in ihren übrigen Ausführungen durchaus recht haben und welche Maßnahmen und Vorkehrungen getroffen werden müssen, um die Von beiden Seiten geäußerten Besorgnisse nicht zu rechtfertigen, darüber soll hier zunächst nicht die Rede sein. Ein Rundblick aber über die heutigen Demokratien wird uns belehren, mit welcher Heftigkeit diese Eruptionen aus den Tiefen der Gesellschaft vor sich gehen.

Druck auf Gesetzgebung und Verwaltung

Selbst in den Vereinigten Staaten, dem klassischen Land der wirtschaftlichen und politischen Freiheit, das über jeden „Verdacht“ berufsständischer Gedankengänge oder gar Traditionen erhaben ist, gehört das Problem der „Pressure Groups“ zu den meist diskutierten innerpolitischen Fragen. Unter diesen „Pressure Groups“ werden dort die organisierten Interessengruppen verstanden, die auf die Gesetzgebung und Verwaltung einen politischen „Drude“ aus üben, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen.

„Pressure Groups sind mehr mit der Schaffung von Gesetzen beschäftigt, als politische Parteien“, sagt ein bekanntes amerikanisches Lehrbuch über Wirtschaftspolitik 1950.

Agriculture, Labor, Trade and Industry werden als die „großen Drei“ unter diesen bezeichnet. Insbesondere wird kritisiert, daß die Tätigkeit dieser Gruppen von der Öffentlichkeit unkontrollierbar vor sich geht. Andererseits aber wendet sich die staatliche Wirtschaftspolitik in wachsendem Maße gerne an die bestehenden beruflichen Interessenvertretungen, um sich ihrer Fachkenntnis und ihres Einflusses zu bedienen. „Die Mitglieder des Kongresses sind auf geographischer Basis gewählt“, meint Stuart Chase, der bekannte amerikanische Publizist in seinem Buch „Democracy under Pressure“, 1945, „heute aber sind die wirtschaftlichen, beruflichen und sozialen Interessen oft von größerer Bedeutung als die geographischen. Sie haben aber keine eigene Vertretung.“ Auch die Klage aus dem Kreise der wirtschaftlichen Berater des Präsidenten, daß es schwer möglich ist, diese Gruppen übersichtlich und geordnet zu erfassen, zeigt das Bedürfnis nach einer öffentlich-rechtlichen Organisierung dieser starken gesellschaftlichen Kräfte. Immerhin hatten sich im April 1944 zum Beispiel die Führer der maßgeblichen Interessengruppen der „großen Drei“ zur Unterzeichnung einer gemeinsamen Erklärung über die Innenpolitik der Nachkriegszeit gefunden. Auch bei den neuen Institutionen, denen die wirtschaftspolitischen Maßnahmen Zur Durchführung der Wiederaufrüstung obliegen, ist der Mitwirkung der Interessengruppen weiter Raum gegeben.

Dieses amerikanische Beispiel ist um so bedeutungsvoller, als das angelsächsische Recht und vor allem die dafür geradezu typische Entwicklung der Verfassung der USA sich im Hinblick auf gesellschaftliche Entwicklungen im allgemeinen ungeheuer elastisch zeigt.

Frankreich, politisch wohl das feinnervigste Land, hatte schon um die Jahrhundertwende dieser Evolution Rechnung getragen und hat nun unter au r drücklichen Bezug auf die Formel Proudhons („Substitution de l’Administration des choses au Gouvernement des homines“ — „Ersetzung der Verwaltung der Dinge durch die Regierung der Menschen“) und unter ausdrücklicher Bezugnahme auf ähnliche Einrichtungen, die nach dem ersten Weltkrieg in Deutschland, in der Tschechoslowakei, in Polen und Italien und in Frankreich selbst geschaffen wurden, kurz nach dem zweiten Weltkrieg den Conseil Economique geschaffen, der in der Verfassung von 1946 verankert ist. Dieser Conseil Economique aber besteht vor allem aus Vertretern der Arbeitnehmer, der Landwirtschaft, der gewerblichen Wirtschaft und der geistig Schaffenden.

„Wie nämlich jene Menschen, die durch die Nachbarschaft des Ortes verbunden sind, Gemeinden gründen, so drängt die Natur die Angehörigen eines gleichen Gewerbes oder gleichen Berufes, ob Wirtschaftlicher oder anderer Art, zur Bildung gewisser Gemeinschaften oder Körperschaften“, stellt Pius XI. in „QUa- dragesimo anno“ fest.

Mit diesen Worten ist nicht eine Forderung der Kirche aufgestellt, sondern eine natürliche Tendenz der Gesellschaft zur Kenntnis genommen. D’e Natur

Berufsgruppen organisieren sich

Ąųch in Staaten, in denen es bisher noch nicht Zum institutionellen Ausdruck der weltweiten berufsständischen Tendenzen kam, ist es doch zu gemeinsamen Willensbildungen beruflicher Interessenvereinigungen oder wenigstens zu solchen Versuchen gekommen, die von dem großen Bedürfnis der Völker nach geordnetem Interessenausgleich und kontrollierbarer Zusammenarbeit zwischen den großen Berufsgruppen zeugen, sosehr man auch über die Zweckmäßigkeit dieser konkreten Willensäußerungen geteilter Meinung sein mag. Der Schweizer Versuch einer Art sehr gemäßigten Lohn- und Preisforderungsabkommens zur Steuerung der Inflation ist nur am Widerstand der Gewerkschaften gescheitert. Das in Schweden abgeschlossene sehr konkrete Lohn- und Preisabkommen jedoch ist inzwischen schon mehrmals verlängert worden.

Auch auf internationaler Ebene zeigt die Gesellschaft die unmißverständliche Tendenz, sich auch in großen Berufsgruppen zu organisieren. Der Wirtschaftsund Sozialrat der UNÖ hat zum Beispiel einzelnen wirklich repräsentativen Inter- essenvertrėtungen, unter anderen der internationalen Handelskammer, dem Internationalen Bund landwirtschaftlicher Produzenten und der internationalen Spitzenorganisation der Gewerkschaften beratende Stellung mit weitgehenden Rechten eingeräumt. Auch die jüngsten Versuche zur wirtschaftlichen Integration Europas haben dieser Entwicklung Rechnung getragen: Der Schuman-Plan zur Errichtung einer „Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ stellt der „Hohen Behörde“ ein besonderes Organ zur Seite, das sich aus den Vertretern der Industrien, des Handels, der Arbeitnehmer und der Konsumentenschaft zusammensetzen wird.

Die Entwicklung außerhalb und innerhalb der Grenzen unseres Landes zeigt, daß dieses in ihrer wahren Natur be- grühdete Anliegen der Gesellschaft unabhängig) von Religion und Weltanschauung nach Verwirklichung drängt. Auf sozialistischer Seite war es in Österreich Dr. Stephan W i r 1 a n d ė r, der Sekretär der Wiener Arbeiterkammer, der in einer Ewiderung auf eine Kritik seines Parteigenossen Nationalrat Doktor Pittermann darauf hinwies, daß es „nicht so sehr politische Ambitionen (waren), sondern vielmehr sachlich fundierte Gründe, die zu einer Einschaltung der Kammern führte“.

Es mag dahingestellt bleiben, ob und wieweit sich alles, was sich da tut, schon mit dem deckt, was die Sozialwissenschaft als „berufsständisch“ bezeichnet. Aber selbst die Entwicklung zu echten Berufständen wird unaufhaltsam sein, solange die Gesellschaft die Freiheit haben wird, sich ihrer inneren Natur gemäß zu entfalten. Auch bleibt noch zu untersuchen, welche Zusammenhänge mit anderen schwebenden Fragen der gesellschaftlichen Ordnung hier vorhanden sind, wie zum Beispiel mit der des Mit- spracherechtes oder der der wirtschaftlichen Verabredungen. Schließlich ist noch zu prüfen, welche Rolle territorialen Selbstverwaltungskörpern, etwa den Gemeinden, neben den beruflichen in der modernen Gesellschaft und deren Verfassung bereits zukommt und vielleicht noch zukommen sollte. Es müßte zunächst wohl noch eine den anderen Kammern ebenbürtige Kammer der geistig Schaffenden oder wenigstens der freien Berufe, teilweise aus den vielen kleineren, bereits bestehenden Kammern dieser Berufe gebildet werdsn. Sicherlich würden diese Berufsgruppen bei künftigen wirtsdvafts- politischėn Entscheidungen dann besser abschneiden als bisher.

Viele Fragen bleiben also noch offen Zunächst aber ist schon viel gesagt, wenn auf die Gesichtspunkte hingewiesen wird, nach denen sich die heutige Gesellschaft Organisiert: nach Weltanschauung, Wohnort und Beruf. Den ersten beiden ist heute in Österreich durch die Institutionen des Nationalrates und des Bundesrates Rechnung getragen. Aber auch der dritte muß in der Verfassung Eingang finden, soll die Staatsverfassung mit der der Gesellschaft nicht noch mehr in Widerspruch geraten. Man könnte etwa die jetzt gültige Verfassung von 1929.

„drängt“ in den Völkern aller modernen Kulturstaaten in diese Richtung.

Die Niederlande, die mit der „Stiditing van de Arbeid“, einem fast privaten Ausschuß von Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern aller weltanschaulichen Richtungen seit dem Krieg gute Erfahrungen gemacht haben, haben erst kürzlich ein Rahmengesetz zur Schaffung berufsständischer Korporationen erlassen.

In Westdeutschland ist es der Deutsche Gewerkschaftsbund, der den Ruf nach der Schaffung eines Bundes- wirtschaftsrates erhob, welcher sich aus den beruflichen Kammerorganisationen zusammensetzen und die Spitze einer föderalistisch gegliederten beruflichen Selbstverwaltungshierarchie bilden soll. Die Diskussion ist seither lebhaft entbrannt. Der „Wirtschaftsdienst“, der vom Hamburgischen Weltwirtschaftsarchiv in Verbindung mit dem Institut für Weltwirtschaft in Kiel herausgegeben wird, hat in seiner letzten Nummer diesem Fragenkomplex gleich drei Artikel gewidmet, deren Inhalt durch ihre Titel gekennzeichnet ist: „Integration nebenverfassungsmäßiger Kräfte durch einen Bundeswirtschaftsrat?“ (Dr. H. Sieg), „Das Mitbestimmungsrecht und die berufsständische Ordnung der Wirtschaft“ (Dr. W. Andreae) und „Der Ordnungsgedanke in der freien Berufstätigkeit“ (Dr. C. Kapferer).

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