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Bedenken aus der bäuerlichen Bevölkerung

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Freilich, man muß wohl auch die Gegenstimmen zu diesem Vorschlag hören. Sie verweisen auf die schweren wirtschaftlichen Nachteile, die sich aus dem späteren Eintritt in das Erwerbsleben für die Eltern der Schulkinder ergeben, besonders für die bäuerliche Bevölkerung. Ein weiterer Einwand ist unter dem Schlagwort „Gefahr der Verschulung“ zusammengefaßt worden; er besagt, daß der Anteil der Schule am Lebenslauf des Kulturmenschen zu groß werden könnte. Dem ist freilich sofort zu erwidern, daß die gewaltige Verlängerung der durchschnittlichen Lebensdauer sehr wohl eine Erhöhung des Umfanges der Schulpflicht rechtfertigen kann, wenn sonst gewichtige Gründe dafür sprechen, und genau so sieht man diesen Einwand in großen Teilen der Welt heute an. Was aber die sehr beachtlichen Einwände wirtschaftlicher Art anbelangt, so erledigen sich diese ja zunächst in all den Fällen, wo an die Schule keine Berufsbahn anschließt, sondern Unbeschäftigung oder bloße Gelegenheitsarbeit. Anders liegen die Dinge auf dem landwirtschaftlichen Sektor, wo die Bevölkerung auf den Schulaustritt und den vollen Arbeitseinsatz der Vierzehnjährigen wartet. Daraus erhellt die Notwendigkeit einer elastischen Lösung für die nächste Zeit.

Es wäre daher die fakultative Erweiterung der Schulpflicht für alle jene Fälle vorzusehen, wo das Bildungsziel der Schule nicht erreicht wurde und der austretende Schüler daher im voraus von vielen weiteren Berufswegen ausgeschlossen bliebe, wenn er bereits die Schule verließe. Für eine solche Etappe auf dem Weg zur neunjährigen Schulpflicht sind schulrechtliche Möglichkeiten vorhanden. Als ein erster Schritt in dieser Richtung darf es angesehen werden, daß das Bundesministerium für Unterricht schon vor zwei Jahren die Z u-1 ä s s i g k e i t eines weiteren Schulbesuches auf freiwilliger Grundlage in Erinnerung gebracht hat und ihn für die Vierzehnjährigen ohne abgeschlossene Schulbildung empfahl. Tatsächlich haben in diesem Schuljahr bereits mehrere tausend Jugendliche von einem solchen freiwilligen neunten Schuljahr Gebrauch gemacht. Daneben kommt den schon bestehenden „einjährigen Lehrkursen“ für. die Abgänger der vierten Hauptschulklasse besondere Bedeutung zu.

Natürlich wäre eine umfassende Lösung der ganzen Frage besser als solche Schritte in der Richtung auf ein neuntes Schuljahr. Aber das Beispiel anderer Staaten lehrt uns, daß die Kompliziertheit des Problems, das ja auch eine staatsfinanzielle Seite hat und noch allerlei weitere Fragen aufrollt, wohl nicht so bald einer totalen Erledigung zugeführt werden dürfte. Das gilt besonders dann, wenn man das neunte Schuljahr dort einbaut, wo es im Sinne einer wirklichen pädagogischen Bereinigung offener Bildungsfragen seinen Platz haben sollte, nämlich als fünftes Jahr der seit 1927 auf vier Jahre verkürzten Unterstufe der Volksschule. Seither bricht sich immer mehr die Einsicht Bahn, wie nachteilig der Uebergang zum Fachunterricht für die Zehnjährigen ist. Es ist auch beachtlich, daß die „Grundschule“ bei den meisten europäischen Völkern, aber auch in den USA, fünf oder sechs Klassen hat. Ergibt sich also durch die Einführung des neunten Schuljahres eine zusätzliche Bildungsmöglichkeit, so sollte diese vor allem dem Unterbau zugute • kommen, den Grundlagen jedes weiteren geistigen Erwerbes.

So kann also die Erweiterung der Unterrichtspflicht Gelegenheit zu gesunder pädagogischer Evolution bieten. Es bleibt aber, über jede solche Arbeit auf weite Sicht hinaus, die brennende Notwendigkeit bestehen, dort einzugreifen, wo ein Notstand von dem Umfang und der Gefährlichkeit der Jugendarbeitslosigkeit besteht, und darum sollte schon das kommende Schuljahr die fakultative Verlängerung der Schulpflicht für alle jene Vierzehnjährigen bringen, die das Bildungsziel der Schule nicht erreicht haben und nicht den Nachweis des unmittelbaren Uebertrittes in eine Berufsbahn erbringen, wie das zum Beispiel bei der ländlichen Jugend meistens der Fall sein wird. Gewiß, eine solche Maßnahme hätte ihre Schönheitsfehler und Mängel, aber sie besäße den Vorteil der raschen Durchführbarkeit ohne besonders große schulorganisatorische oder finanzielle Vorkehrungen, weil es sich dabei vielfach nur um eine Auffüllung vorhandener Klassen handeln würde. Vor allem aber: 20.000 bis 30.000 Jugendliche, denen sonst die Unbeschäftigtheit und die hinter ihr lauernde Verwahrlosung droht, könnten für ein Jahr erfaßt und für ihr weiteres Leben mit den Vorteilen einer besseren Schulbildung ausgestattet ■werden — und das will viel bedeuten!

Der unabweisbaren Notwendigkeit einer Erweiterung unserer Schulpflicht aber werden wir nach einem solchen ersten Schritt möglichst bald voll genügen müssen, so wie seinerzeit Oesterreich — zu seinem unschätzbaren Vorteil — unter den ersten Staaten war, die in einer ähnlichen Entwicklung von der sechsjährigen zur achtjährigen Schulpflicht übergingen.gangenheit der Marine der Rumpf der „Bri-.tannia“, auf der zwei oder drei Generationen von Seeoffizieren ihre Ausbildung beendet hatten.

Der Uebergang nach Dartmouth war ein Schritt auf der Stufenleiter unserer Marinelaufbahn, aber keine Beförderung. Im Gegenteil, nach unserer stolzen Stellung als ältere Semester in Osbofne erinnerten uns unsere alten Senioren, die wir fast zwei Jahre nicht gesehen hatten, alsbald daran, daß wir nun wieder einen niedrigen Status einnahmen. Die Neckereien und Quälereien, die sie ausheckten, waren nur noch schlimmer, weil sie auch darin inzwischen zugelernt hatten.

Zumal die Kadettenkapitäne nutzten ihre Stellung aus, uns auf alle Art das Leben schwer zu machen. Eines Abends im Schlafsaal beim Auskleiden gebot unser Kadettenkapitän mit dem Gong Ruhe. Er sagte, wir seien eine faule, nichtsnutzige Bande und hätten eine Aufmunterung nötig. Er sagte weiter, daß von nun an die Zeit zum Auskleiden und Anziehen der Schlafanzüge vor dem Hinunterrennen zum Waschraum von einer Minute auf dreißig Sekunden herabgesetzt werde. Wir waren schon gewöhnt, alles „doppelt so schnell“ zu tun und Befehle prompt auszuführen; aber das war zuviel. Das unvermeidliche Ergebnis war eine Reihe von Einzelappellen im Waschraum nach dem Licht aus“ und eine harte Abreibung mit dem Tau für jeden, der die Bedingung nicht erfüllt hatte.

Dieser Tyrannei war nur durch eigene Klugheit zu begegnen, und wir kamen auf den Ausweg, alle Kleidungsstücke, die nicht vorschauten, schon vor dem Antreten zum Gebet auszuziehen. Keiner von denen, die unseren strammen Aufmarsch überwachten, wußte, was uns bevorstand. Denn sobald wir durch das große Portal waren, begann ein Gerenne. Wir rannten durch die Halle die Treppen hinauf und drängelten uns in den Schlafraum, um uns auszukleiden und an dem Kadettenkapitän vorbeizumarschieren, der dort mit der Uhr in der Hand unter der Kanone stand. Jeden Abend gab es ein paar Versager weniger; wir fielen zitternd und erschöpft ins Bett und erwarteten ernstlich den Aufruf der Nachzügler zur Bestrafung.

Es dauerte zwei oder drei Wochen — nach unserer Ansicht viel zu lange, ehe unser Leutnant, ein netter und zufällig junger Offizier, die unnötige Härte entdeckte, der wir unterworfen wurden, und die Kadettenkapitäne anwies, den Befehl aufzuheben.

In der ersten Maiwoche 1910 waren mein Bruder Bertie und ich im Marlborough-Haus und bereiteten uns, nach einem durch nichts getrübten Osterurlaub in Frogmore, auf die Rückkehr nach Osborne und Dartmouth vor. Mein Großvater, König Eduard VII., war von seinem jährlichen Erholungsaufenthalt in Biarritz nach London zurückgekehrt und hatte uns mit meinem Vater zu „Rigoletto“ in der Covent-Garden-Oper mitgenommen. Uebers nächste Wochenende war er nach Sandringham gefahren und hatte sich dort eine schwere Erkältung zugezogen. In London entwickelte sich das dann zu einer Bronchitis und seine Familie und die Aerzte wurden sehr besorgt. Als es dem König zunehmend schlechter ging, wurden offizielle Bulletins am Tor des Palastes angeschlagen, damit die Oeffentlidikeit wisse, wie ernst es um ihn stehe. Am Tage, bevor wir wieder im College sein mußten, schickte mein Vater nach uns und ließ sagen: „Ich habe euren Kapitänen telegraphiert, daß ich euch beide hier bei mir behalten möchte. Euer Großpapa ist sehr krank und sein Ende dürfte nicht mehr fern sein.“

Mein Großvater starb am 6. Mai 1910, einige Minuten vor Mitternacht im Bucking-ham-Palast. Noch am Nachmittag hatte eine seiner Stuten, „Witch of the Air“, das Rennen im Kempton-Park gewohnen. Ich erinnere mich noch, wie mein Vater in einer aus Leid und Freude gemischten Stimmung vom Marlborough-Haus hinüberging, um seinem sterbenden Vater diese Nachricht zu bringen.

Am 20. Mai, einem drückend heißen Tag, wurde mein Großvater bestattet. Neun Monarchen zu Pferde, von meinem Vater als König angeführt, ritten im Leichenzug von Westminster zum Paddington-Bahnhof. Kaiser Wilhelm II. in der Uniform eines britischen Feldmarschalls ritt ein weißes Roß. Ihm zur Seite ritt der Herzog von Connaught, der einzige überlebende Bruder meines Großvaters; dann folgten die Könige von Spanien, Portugal, Dänemark, Griechenland, Norwegen, Belgien und Zar Ferdinand von Bulgarien, Kaiser Franz Joseph von Oesterreich wurde durch den Erzherzog Franz Ferdinand vertreten, Zar Nikolaus II. von Rußland durch seinen Bruder, den Großherzog Michael Alexandrowitsch, und der König von Italien durch den Herzog von Aosta.

Vor kurzem stieß ich zufällig auf ein altes Photo mit diesen neun Herrschern im Leichenzug, und ich mußte darüber nachdenken, wie rasch für die meisten von ihnen ihre Zeit abgelaufen war. Innerhalb von drei Jahren starb der König von Dänemark. Sein Bruder, der König der Hellenen, fiel in Saloniki durch die Kugel eines Mörders. Der junge König von Portugal war alsbald ein Verbannter in Großbritannien, und vier Jahre später wurden Erzherzog Ferdinand und seine Gattin Opfer eines doppelten politischen Mordanschlages in Sarajewo. Ehe noch die Erschütterungen, die diese Untat heraufbeschwor, sich gelegt hatten, lagen drei große Kaiserreiche am Boden; achteinhalb Millionen Menschen waren getötet und der deutsche Kaiser war der einsame Holzhacker von Doorn geworden.

Aber all das lag noch in ferner Zukunft, als Mary und ich mit meiner Mutter in einer der Staatskarossen fuhren. Ueber den dicht gedrängten, schwitzenden und ermatteten Massen in den Straßen von London lag tiefes Schweigen, das nur durch das Geräusch der Pferdtufe und die Trauermärsche der massierten Militärkapellen unterbrochen wurde. In halbstündiger Eisenbahnfahrt erreichten wir Windsor. Der Sarg wurde auf eine wartende Lafette gestellt. Blaujacken zogen sie langsam hügelaufwärts zur St.-Georgs-Kapelle; der lange Leichenzug folgte zu Fuß, Bertie und ich in Seekadettenuniform gingen hinter meinem Vater.

Für uns Enkel war alles etwas überwältigend und fast unwirklich, und erst als der ganze eindrucksvolle Begräbnispomp vorbei war, wurde uns die volle Bedeutung von Großvaters Tod bewußt. Daß unsere Eltern jetzt König und Königin von England waren, fanden wir selbstverständlich; aber unsere eigene Stellung und besonders meine war schwer zu begreifen, denn nun, da ich designierter Thronerbe war, konnte wahrscheinlich nichts, ausgenommen der Tod, verhindern, daß ich eines Tages „durch die Gnade Gottes König von Großbritannien, Irland und den britischen Dominien in Uebersee, Schirmherr des Glaubens, Kaiser von Indien“ würde ...

Aus „Eines Königs Geschichte', Blanvalet-Veilag, Berlin

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