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Bei den Schülern des „persönlichen Lebens“ Besuch in der Volkshochschule zu Eerbeek in Holland

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Im Winkel, den der Niederrhein mit der nach Norden fließenden Ijscl bildet, liegt einer der schönsten Teile Hollands, das Naturschutzgebiet der Hoogen Veluwe. Es ist ein weites, stilles Land, dessen weiche Wellen gegen die Stromebene auf der einen und gegen die Zuidersee auf der anderen Seite verebben. Das Heideland ist da und dort unterbrodien von alten Parks, in deren Mitte Herrensitze aus vergangenen Jahrhunderten liegen. Sie tragen noch den Abglanz jener Zeiten, in denen die Patrizier von Amsterdam sich vom politischen oder wirtschaftlichen Kampf zur Ruhe und Erholung zurückgezogen haben. Eines jener Güter nennt sich ’t Huis te Eerbeek und ist der Sitz einer der neun Volkshochschulen des Landes, die ich um die Mitte dieses Sommers besuchte.

Auf dem Wege von der kleinen Bahn- statioq gab mir der Leiter des Instituts, Dok- tor Hi D. d e V r i e s R e i1 i n g h, in knappen Zügen eine Einführung in Wesen und Ziel der holländischen Volkshochschulen: „Die Volkshochschule ist keine Schule, in der nur Kenntnisse vermittelt werden, keine Fachschule, die auf einen Beruf vorbereitet,

keine Hochschule, in welcher Wissenschaften gelehrt werden. Sie ist eine Schule, in der man Vertiefung, Erweiterung und Bereicherung des persönlichen Lebens findet, wo Interesse und Verantwortung für die Fragen der Zeit geweckt werden, wo man lernt, seinen Platz im Zusammenleben zu finden und darin seine Aufgabe zu erfüllen, wo die Zukunft unseres Landes gebaut wird auf kräftigen, entwickelten und bewußten Persönlichkeiten. Sie ist eine „runde Tafel“, wo richtige Urteile geformt, richtiges Verhalten aus dem Beisammensein junger Kräfte aller Kreise des Volkes geweckt wird, und sie ist schließlich eine Schule der Demokratie, die nur leben kann, wenn wir das Recht auf Mitsprache durch Förderung der Persönlichkeit immer wieder erwerben. Weldie Bedeutung dieser Institution für Holland zukommt, kann nur ermessen, wer die starken, oft unüberbrückbar scheinenden Gegensätze zwischen den verschiedenen sozialen Schichten und den einzelnen Bekenntnissen kennt. Das Mittel zur Erreichung unseres Zieles ist das lebendige Wort in Vortrag und Wechselrede, gemeinsame Arbeit und der Internatsverband. Wir kennen weder Prüfungen noch Zeugnisse und wenden uns hauptsächlich an junge Menschen, weil sie für diese Art Volkserziehung am empfänglichsten sind und weil sie die künftige Form des Zusammenlebens bestimmen werden. Die tragenden Ideen, auf denen das Volks., hochschulwerk beruht, sind daher: Persönlichkeit, Volksgemeinschaft und Christentum.“

Aus Statistiken, Programmen und Veröffentlichungen entnahm ich weitere Einzelheiten. Es gab da Kurse für Arbeiter und Beamte der Industrie, gemeinsam mit Studenten der Technischen Hochschule, über Probleme der Arbeiterschaft, für Mädchen und Frauen aus Fabrik und Kontor über ihre Berufsfragen, bäuerliche Jungmännerkurse über Probleme des Bauerntums, für bäuerliche Jungmädchen zum Thema: „Was machen wir aus unserem Leben“, Kurse für Jungverheiratete über Wohnraumgestaltung, ein schweizerisch-niederländischer Kurs für Werkarbeit, daneben Kurse für Hausmusik, Volkstanz usw. In das Tagesprogramm ist reichlich praktische Arbeit in Haus, Garten, Landwirtschaft und Werkstatt eingebaut, bei der sich der Abteilungsleiter neben dem Arbeiter, die Direktrice neben der Verkäuferin betätigt. An die Vorträge schließen die W echselreden an, in deren Mittelpunkt die geistigen, sozialen und ökonomischen Belange der Nation stehen. Auch das Lesen und Besprechen in- und ausländischer Zeitungen sowie die Arbeit von Studiengruppen zur Vertiefung in Spezialfragen gehören in das Kursprogramm. Schließlich sorgen Sport und Spiel in den weiträumigen Parks oder Wanderungen in die Heide für den notwendigen körperlichen Ausgleich. Zu den abendlichen Vorträgen werden nicht selten hervorragende Persönlichkeiten des Lande herangezogen, selbst die Königin hat im vergangenen Jahr ihr Interesse für das Volkshochschulwerk durch einen Besuch bekundet. Die Statistiken zeigen ein Anwachsen der Teilnehmerzahl sämtlicher Schulen von 3125 im Jahre 1945 auf 14.645 im Jahre 1948. Unter den Besuchern des letzten Jahre befanden sich 17 Prozent Bauern, 37 Prozent Arbeiter, 23 Prozent Lehrer, 7 Prozent Studenten, 8 Prozent Angehörige verschiedener Berufe und 8 Prozent Ausländer. Die Schulen unterstehen der „Vereinigung zur Errichtung von Volkshochschulen“. Der Staat beteiligt sich mit 30 Prozent an den Gesamtausgaben, der übrige Aufwand wird durch Kufsbeiträge, Stiftungen und Erträgnisse eigener Güter gedeckt. Die Dauer reicht von Wochenendveranstaltungen bis zu vierwöchigen Kursen. Eine Aufgabe besonderer Art ist die Pflege der kulturellen Beziehungen mit dem Ausland, wobei jede Schule ihr bestimmtes Arbeitsfeld hat. Eerbeek wendet sich in erster Linie an Deutschland und — sobald es die Verhältnisse ermöglichen — an Österreich. Diese sogenannten Kontaktkurse gewinnen damit eine gesamteuropäische Bedeutung und versuchen, auf geistigem Niveau jene Grundlagen mitzuschaffen, aus denen dereinst ein friedliches Zusammenleben der europäischen Völker erwachsen kann.

Während meines Aufenthaltes lief gerade ein auf vier Wochen berechneter Kurs für Leiter und Leiterinnen von Lesesälen und Bibliotheken, der etwa 30 Teilnehmer umfaßte. Unter den Vortragenden waren mehrere katholische Priester genannt. Nun war ich über das Verhältnis Katholizismus — Protestantismus in Holland genügend unterrichtet, um nicht über die Tatsache zu staunen, daß hier katholische Priester vor einer Mehrheit nichtkatholischer Hörer sprechen. In der Tat ist — wie der Leiter der Schule hervorhob — das Volkshochschulwerk (vielleicht neben dem Heer) die einzige Organisation, welche Angehörige aller Bekenntnisse erfaßt. Am ersten Abend sprach ein katholischer Priester aus Flandern — übrigens eine Prachtgestalt Timmertaannscher Prägung voll Geist und Vitalität — über Guido Gezelle. Mit großer Wärme und tiefer Kenntnis legte er vor uns das Lebenswerk des flämischen Priesterdichters dar, ergänzt durch meisterhaft vorgetragene Proben seines Schaffens. Dabei wurde keine Gelegenheit versäumt, auf die großen Verschiedenheiten zwischen flämischem und holländischem Volkstum hinzuweisen, aber auch das Gemeinsame aufzuzeigen, dessen Förderung ja mit zu den Aufgaben der Volkshochschulen gehört.

Dieser Gedanke: unter Achtung des Andersartigen von Menschen und Völkern immer wieder das Gleiche, das Verbindende zu suchen, lag auch den Ausführungen zugrunde, welche ich über Einladung des Leiten zum Thema: Österreich, Land und Volk,

machte. In der daran anschließenden Diskussion konnte ich die Gründlichkeit und Zähigkeit kennenlernen, mit welcher der Holländer Problemen zu Leibe rückt, die Sachlichkeit, mit der er sie diskutiert, und die Hartnäckigkeit, mit der er seinen Standpunkt vertritt — aber auch die starke Anziehung, welche für ihn jenes Land — auch heute noch und trotz gewissen Erfahrungen des Krieges — besitzt, das zwei Dinge voraus hat: den Höhenflug der Phantasie und die Tiefe des Gemüts. In den abschließenden

Worten einer schon weißhaarigen Dame, die noch das kaiserliche Wien gekannt hat, kam jene Anhänglichkeit und stille Sehnsucht des kühleren Nordländers noch einmal in rührender Weise zum Ausdruck. Diese Gespräche fanden in den Alleen hoher Buchen, auf der mondbeschienenen Terrasse oder am glitzernden Weiher manche Fortsetzung, und man schied, als die Zeit um war, nicht ohne die Einsicht, wie viel leichter sich alle Verhältnisse unter den Menschen regeln ließen, wenn guter Wille sie beseelte.

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