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Brauchen wir ein neuntes Schuljahr?

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Das Ministerkomitee für die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit hat in der ersten Sitzung einer Reihe konkreter Maßnahmen einhellig zugestimmt. Dazu gehört unter anderem die Einführung des neunten Schuljahres. Der Besuch des neunten Schuljahres soll vorerst bedingt freiwillig sein, das heißt, nur jene Vierzehnjährigen, die keine Lehrstelle finden, wer den ein weiteres Jahr die Schule besuchen

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Das Ministerkomitee für die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit hat in der ersten Sitzung einer Reihe konkreter Maßnahmen einhellig zugestimmt. Dazu gehört unter anderem die Einführung des neunten Schuljahres. Der Besuch des neunten Schuljahres soll vorerst bedingt freiwillig sein, das heißt, nur jene Vierzehnjährigen, die keine Lehrstelle finden, wer den ein weiteres Jahr die Schule besuchen

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Die Verlängerung der Schulpflicht darf nicht ausschließlich als Maßnahme gegen die Jugendarbeitslosigkeit gesehen werden, denn eine so einschneidende Veränderung im I.ebensrhythmus von Jugend und Volk muß vor allem pädagogisch voll begründet und gerechtfertigt sein.

Nun ist es ja so, daß die Forderung nach einer Verlängerung des allgemeinen Schulbesuches nicht wegen der Jugendarbeitslosigkeit und in ihrem Gefolge aufgetaucht ist, sondern auf viel tiefere Ursachen zurückgeht,aber jetzt aus der Sorge um die Jugend heraus in ein neues Licht gerückt erscheint.

Man darf mit Friedrich Schneider sagen, daß „das Problem des neunten Schuljahres nur ein Spezialfall aus der Geschichte der allmählichen zeitlichen Ausdehnung der Schulpflicht überhaupt ist“. Diese Entwicklung beruht auf dem Anwachsen des Bildungsgutes unserer Schulen. Hat die allgemeine Schul- (genauer gesagt: Unterrichts-) Pflicht das Ziel, jedes Kind mit den wichtigsten Kulturtechniken auszurüsten (Schreiben, Lesen, Rechnen, Zeichnen), ihm ein erstes Weltbild und die Grundlagen einer Weltanschauung zu vermitteln, so wird natürlich der Umfang dieser Elementarbildung immer in einem gewissen Verhältnis zum kulturellen und zivilisatorischen Besitz des betreffenden Volkes stehen müssen, das heißt, die Quantität des Bildungsgutes hängt von der kulturellen Gegebenheit ab. Aus dieser Bezogenheit erklärt es sich, daß man in der Mitte des vorigen Jahrhunderts fast überall in Europa von der sechsjährigen zur achtjährigen allgemeinen Schulbildung fort-schritt, als die Erschließung der Erde und der naturwissenschaftliche Erkenntnisstand die Situation der Schule geändert hatten. Das bisher in sechsjähriger Schulbildung bewältigte Grundwissen und -können reichte nicht mehr aus und so vollzog sich unter vielen Bedenken und . großen Schwierigkeiten der notwendig gewordene Schritt zur achtjährigen Schulpflicht.

Seither ist fast ein Jahrhundert verflossen. Die Beherrschung der Natur und ihrer Kräfte hat - weitere ungeahnte Fortschritte gemacht und die menschlichen Beziehungen sind in eine ganz neue Phase getreten. Es ist klar, daß die allgemeine Schulbildung von der Erweiterung des Weltbildes und von den Anforderungen an den Menschen der Gegenwart nicht nur Kenntnis nehmen, sondern, ihnen gerecht werden muß. Ihre Aufgaben haben sich damit gewaltig vergrößert, ist dodi die Schule nicht Selbstzweck, sondern zum Dienst am Leben verpflichtet. Immer wieder wird sie ja mit Recht unter diesem Gesichtswinkel kritisch gemustert.

Schon seit Jahrzehnten hat die Schulwelt selbst diesen Tatbestand erkannt. Sie suchte ihm gerecht zu werden und das Plus an neuen Aufgaben zunächst durch Rationalisierung ihrer Arbeit zu bewältigen. Die Reform der Unterrichtsmethoden konnte tatsächlich bis zu einem gewissen Grad zusätzlichen Raum für die erweiterten Bildungsaufgaben schaffen. Nicht mehr aber war das möglich, als zwei Weltkriege einen totalen Umbruch dsr Zivilisation brachten. So kann die Schule von heute nicht mehr in dem ihr zustehenden Rahmen den Minimalforderungen dieses hochdifferenzierten Lebens entsprechen. Ständig will man neue Aufgaben an sie herantragen, und schon zeigt es sich, daß die Fundamente der eigentlichen Elementarbildung dadurch in die Gefahr der Vernachlässigung kommen. Etwa 30 Jahre ist es her, seit aus diesen Gründen der Ruf nach einer Erweiterung der bisher fast in allen Kulturstaaten bestehenden achtjährigen Schulpflicht laut wurde, den Pädagogen vom Range eines Kerschenste i n e r und Spranger unterstützten.

Je nach den historischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten kam es nun in den verschiedenen Ländern zu nationaltypischen Entwicklungen dieses Problems. Grundsätzlich besteht heute kein Zweifel mehr darüber, daß die elementare Volksbildung der Kulturstaaten in Zukunft mindestens neun Schuljahre umfassen wird. Es sind allgemein- und berufspädagogische Gründe, die auf weite Sicht dazu zwingen werden. Entwicklungsmäßig ist ja das Alter von 14 Jahren, in dem wir heute die Kinder aus der Schule entlassen, ein ungünstiger Zeitpunkt für die totale Umstellung, die diesem Ereignis folgt, und es ist einer der größten psychologischen Vorteile der studierenden Jugend, daß sie nicht schon mit 14 Jahren, sondern erst in einem Alter der relativen Reife die Schule verläßt. Die Fünfzehnjährigen würden besser vorbereitet und um ein Stück weiterentwickelt in geistiger und körperlicher Beziehung in das Leben hinaustreten als jetzt die Vierzehnjährigen. Uebertragen auf die ganze Breite des Volkskörpers bedeutet das eine Verbesserung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und der kulturellen Dispositionen. Das sind nur einige der beachtlichen pädagogischen Gründe für das neunte Schuljahr, zu denen nunmehr als auslösendes Moment die Jugendarbeitslosigkeit und die sehr beunruhigende Jugendkriminalität hinzutritt.

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