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Brutstätten heller Köpfe

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Wer im späten Sommer in einem der Züge fährt, die die zahlreichen Industriestädte der Midlands und des Nordwestens Englands untereinander verbinden, trifft oft auf junge Burschen und Mädchen in Blazern mit dem Schulwappen auf der Brust. In der Mehrzahl der Fälle fahren diese jungen Leute zu einer der Universitäten, einem Interview entgegen, das neben der Empfehlung des Schuldirektors über die Annahme als künftiger Student entscheidet. In England bedeutet das Bestehen der Abschlußprüfung in einer „Grammar“-Schule, die unserer Mittelschule entspricht, noch lange nicht, daß der junge Bursch oder das junge Mädchen auch wirklich an einer Universität studieren darf. Dabei handelt es sich meist um eine der „Ziegeluniversitäten“ in den Provinzstädten, da nur etwa zehn Prozent in den „Steinuniversitäten“ Oxford oder Cambridge studieren.

Wie sieht denn der typische Werdegang eines jungen Engländers aus, der nach dem Wunsch der Eltern einmal eine akademische Erziehung erfahren soll?

John McManus — wie wir unseren Prototyp taufen wollen — wuchs in einer Stadt in Yorkshire, dem Nordosten Englands, als Sohn eines Bergarbeiters auf. Als er fünf Jahre alt wurde, begann er, in eine Primärschule zu gehen. Mit elf Jahren hatte er die sogenannte „Elf-plus“-Prüfung zu bestehen, die darüber entschied, ob er seinem Ziel, der Universität, einen Schritt näherrücken konnte. John McManus kam über diese Hürde hinweg; er wurde in eine Mittelschule aufgenommen. Ein Erfolg in der „Elfplus “-Prüfung bedeutete für die Familie McManus sehr viel. Er stellte nicht nur ein gewisses soziales Qualitätszeichen dar, er war mit dem kostenlosen Besuch der Mittelschule verbunden. Selbst die Schulbücher erhielt Jßh^.Jei^yyeise von^ein^^chu^,,^ . .^(AIsvMcManus d&Jalurc alt ,War,ijke| kamder- Vater zusätzlich jährlic f$ Pfund* Sterling als 'Unterstützt* für Kleidung, Wäsche usw. ausbezahlt. (Für dieses Geld konnte McManus senior seinem Sohn rund zwei Anzüge, zwei Paar Schuhe, die nötige Wäsche und die Schuluniform kaufen, die ziemlich teuer ist und die alle Schulkinder tragen müssen.)

Ein Jahr später mußte John eine weitere Prüfung ablegen: das sogenannte G. C. E. 'O', das etwa unserer mittleren Reife entspricht. Besteht er sie, liegt ihm nichts im Wege, die zwei oder drei „sechsten“ Klassen zu besuchen, die zum G. C. E. 'A' führen — also unserer Matura. Während dieser Zeit gewährte der Staat dem Vater entsprechend seinem Einkommen finanzielle Unterstützung und bezahlte für McManus junior das Schulgeld.

In den ersten fünf Jahren in der Mittelschule erhielt John McManus Unterricht in acht Gegenständen. Es war ihm weitgehend möglich, aus den zahlreichen Fächern jene auszuwählen, die ihm am meisten zusagten. Er mußte die erkorenen Gegenstände keineswegs die ganze Zeit beibehalten. Als er zum Beispiel nach zwei Jahren von Latein genug hatte, wählte er statt dessen Zoologie, es hätte aber auch Musik sein können. Nach der mittleren Matura (wortwörtlich: allgemeine Bestätigung über Erziehung, mittleres Niveau) kam für John McManus eine große Erleichterung. In der sechsten Klasse hatte er nur noch Unterricht in drei Gegenständen. Wiederum war ihm die Wahl nahezu ganz überlassen. Da er Physiker werden wollte, suchte er sich Mathematik, Physik und- theoretische Mechanik aus; eine andere Möglichkeit wäre Mathematik, Physik und Chemie gewesen. Sein bester Freund wollte Geschichte studieren, weshalb er sich auch eine Kombination von Geschichte, Französisch und Englisch aussuchte. Das Niveau, das in dieser sechsten Klasse erreicht wird, ist vergleichsweise hoch.

Am Ende der sechsten Klasse fand dann die letzte, entscheidende Prüfung statt. Diese erfolgte hauptsächlich schriftlich; der Verband der Universitäten Nordenglands hatte die Prüfungsfragen zusammengestellt. Universitätsprofessoren und -dozenten bewerteten die Arbeiten. Seine Mittelschullehrer hatten überhaupt keine Möglichkeit, das Ergebnis zu beeinflussen.

John McManus bestand seine Matura. Schon vorher hatte er an fünf bis sechs Universitäten geschrieben und sich um die Aufnahme beworben. Denn die abgelegte Matura bedeutete noch nicht automatisch, daß eine Universität ihn auch annehmen würde. Nach einem.durch Tradition geheiligten Grundsatz muß es der Universität möglich sein, die ihr passenden Studenten auszusuchen; umgekehrt wird der Student natürlich vor allem jene Universitäten anschreiben, die er allen anderen vorzieht. Da dieses System viel Leerlauf mit sich brachte, wird ab nächstem Jahr ein von allen englischen Universitäten gemeinsam errichtetes Sekretariat diesen Vorgang koordinieren.

Freilich ist das englische Schulsystem weit davon entfernt, so einheitlich zu sein, wie es zunächst scheinen mag. Gerade durch seine Vielfalt unterscheidet es sich vom österreichischen. Jeder Engländer, der sich einmal mit Erziehungsfragen auseinandergesetzt hat, warnt den ausländischen Besucher vor einem zu raschen Urteil über das englische System. Nur allzuoft hört man aber dann auf seine Fragen die Antwort: „Das ist viel zu kompliziert.“ Da empfiehlt sich ein Besuch im Londoner „Catholic Education Council“, der in einem alten Haus in einer kleinen Seitenstraße nicht weit von dem ehemals so berühmten Intellektuellenviertel Bloomsbury untergebracht ist. Den „Catholic Education Council“ kann man am besten als das ständige Sekretariat des Erziehungskomitees beschreiben, das die Interessen der katholischen Kirche in England im beratenden Ausschuß des zuständigen Ministeriums vertritt. Der leitende Sekretär, Mr. Cunningham, ein rund dreißig Jahre alter ehemaliger Schüler der berühmten katholischen Public School Stoneyhurst, ist geduldig genug, um alle Fragen zu beantworten.

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