6736810-1966_24_05.jpg
Digital In Arbeit

Chance des „Polytechnischen“

Werbung
Werbung
Werbung

Bei der Einführung des Polytechnischen Lehrganges im Herbst können die Menschen hierzulande nur schwer verwinden, daß dieser unleugbar mit einer schweren politischen Hypothek belastet ist, stammt er doch nicht nur aus dem kommunistischen Manifest, sondern bildet in der Gegenwart den Kernbegriff der sowjetzonalen Pädagogik.

Nun sollten wir uns freilich bemühen, die Voreingenommenheit gegen ein Projekt zu überwinden, wenn es wertvoll ist und einem Zeiterfordernis entspricht, obwohl es aus einer ganz anderen geistigen Welt stammt. Es läßt sich dieses, auf die Kemgedanken zurückgeführt, auch auf andere Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme mit Erfolg übertragen.

Die Erhöhung des Anspruchsniveaus bei der Handhabung moderner Betriebsmethoden, und erst recht die Vermehrung der Freizeit, lassen nach W. Reischock eine allseitige Bildung für den Menschen zur dringenden Notwendigkeit werden, wobei es freilich nicht um ein „Fitmachen für irgendwelche neue technische Gegebenheiten“ oder um ein „bloßes Aufgradieren“ gehe, sondern um eine allseitige technische Grundausbildung und eine vielfältige und auswechselbare Beherrschung des technischen Prozesses überhaupt.

Abwerbung von Nachwuchs

Trotz dieser und anderer positiver Stellungnahmen zur Einführung eines neunten Schuljahres in der Form eines Polytechnischen Lehrganges kann das ziemlich verbreitete schleichende Mißtrauen nicht gebannt werden. Der Ruf nach Mehrung der Maturanten für verschiedene gehobene Mangelberufe in Verbindung mit der Neigung sehr vieler beiderseits erwerbstätiger Eltern mit zumeist nur einem Kind (und einem oder zwei Nachhilfelehrern), dieses möglichst studieren zu lassen, verstärkt die Tendenz, den Polytechnischen Lehrgang zu umgehen. Es tritt geradezu eine Abwerbung mit ebenso unerwünschten wie unerfreulichen Folgen ein: Der Rückgang der Schülerzahl für den Polytechnischen Lehrgang hat zwangsläufig die Minderung des Nachwuchses für Handwerk und Gewerbe zur Folge. Der Nachwuchs wird aber nicht nur reduziert, er unterliegt auch einer negativen Auslese.

Mehr noch als in Deutschland wird sich die negative Auslese für Österreichs kunstgewerbliche Berufe nachteilig auswirken. Hier wie dort wird sowohl der Mangel als auch die Mangelhaftigkeit des Nachwuchses in den handwerklichen Grundberufen (Maurer, Zimmerer, Tischler, Mechaniker, Schlosser, Maschinenbauer, Dreher usw.) stark zu spüren sein. Für Österreich wird der Rückgang im kunstgewerblichen Handwerk trotzdem noch folgenschwerer und spürbarer werden, hat er doch für unser Land und unsere Wirtschaft relativ die gleiche Bedeutung wie der Fremdenverkehr, weil seine Erzeugnisse in die ganze Welt gehen. Um den Nachwuchs für diese Qualitätsberufe steht es heute schon sehr schlecht: ein Wiener Drechslermeister für kunstgewerbliche Artikel verfügt über den einzigen Lehrling seines Geburtsjahrganges in Wien. Sage nun niemand, das sei ein aussterbendes Handwerk! Ein Berufskollege dieses Meisters hat sich in der letzten Zeit in New York mitten in der Stadt

etabliert, und zwar in einem kleinen Lokal mit sehr großer Auslage: in ihr arbeitet er seither an der Drechselbank mit der Hand und dreht der Reihe nach Holzteller herunter; Kopf an Kopf drängen sich vor dem Fenster die Leute und kaufen ihm Teller für Teller sofort ab.

Wandlung alter Traditionen

Eine solch erstaunliche „Wunder - wiikung“ muß in einem so hoch rationalisierten und bereits automatisierten Land und einer immer mächtiger um sich greifenden „Do- it-yourself-Bewegung“ zwangsläufig eintreten.

Mehr aber noch als in Vergangenheit und Gegenwart werden wir künftig in Österreich darauf Bedacht nehmen müssen, daß bei der berufsorientierenden Vorbereitung die kunstgewerblichen Berufe nicht vernachlässigt werden. Schon in den nächsten Jahren wird nämlich die „absolute Disponibilität“ des Menschen für wechselnde Arbeitserfordernisse entscheidend zum Tragen kommen. Nach einer Feststellung von Soziologen und Betriebswirtschaftlern wird in der Bundesrepublik bis zum Jahre 1970 jeder vierte Beschäftigte seinen erlernten Beruf aufgeben müssen. Schon heute arbeiten etwa 30 von 100 Bundesdeutschen in Berufen, die sie nicht erlernt haben. Ihre ursprüngliche Lehrzeit wird daher als unwirtschaftliche Geld- und Zeitvergeudung angesehen. Die unerläßliche Umstellung wird in höchstem Grade die Industriegesellschaft aufrütteln. So ganz unauffällig voll

zieht sich ein Wandlungsprozeß: Während Handwerker und Facharbeiter weniger Werden, steigt die Zahl der Techniker und Angestellten. 1950 kamen auf 100 Arbeiter noch 28 Angestellte, Ende 1964 stieg ihre Zahl bereits auf 38.

Die Zeitschrift „Erziehung und Beruf" (Ratingen 1 1966, S. 26) tritt daher mit Nachdruck für eine „Aufwertung der Berufsschule" ein. Die bisher übliche mehrjährige Ausbildung für einen „Lebensberuf“ ist sinnlos geworden und somit überholt Die Techniken in der modernen Betriebspraxis erfordern immer neue und sich stets wandelnde „Funktionen“, für die unsere Jugend kaum die nötigen Schulkenntnisse und die erforderliche Ausbildung mitbringt abgesehen davon, daß

heute kein Lehrling voraussehen oder voraussagen kann, welchen Beruf er in 20 Jahren auszuüben gezwungen sein wird. Es wird daher eine breiter angelegte und kurzfristige „Grundausbildung“ mit gleichzeitig erfolgender Erziehung zu geistiger Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit angestrebt.

In den internationalen Gremien — etwa beim Internationalen Arbeitsamt in Genf oder bei der EWG in Brüssel — ist diese Sachlage seit mehr als einem Jahrzehnt bekannt. In Frankreich wurde daher die Schulzeit verlängert und es werden die letzten Schuljahre so gestaltet, daß die Schüler diesen Zukunftsaufgaben gewachsen sind. Schrittweise wird die Lehrlingsausbildung aufgegeben und auf rund 20 „Grundberufe“ eingeschränkt. Wie in den USA versuchen deutsche Großfirmen der Tendenz „Funktionen statt Lebensberuf“ zu entsprechen, indem sie die Lehrlingsausbildung selbst in die Hand nehmen.

Grundausbildung in Stufen

Obwohl sich diese handwerkliche „Grundausbildung in Stufen“ bei einigen Großfirmen bereits bewährt hat, wird sie gegenwärtig mit Unterstützung der Kammern in 38 Lehrbetrieben der Metallindustrie mit rund 800 Lehrlingen vorerst erprobt. Der DIHT vertritt nämlich mit Recht die Meinung, daß vor einer allgemeinen Einführung dieser stufenweisen Ausbildung einige Fragen geklärt und Erfahrungen gesammelt werden sollten. Früher oder später wird jedoch der Übergang zur generellen Einführung nicht mehr aufzuschieben sein. Dib berufsorientierende Vorbereitung und Einführung und die stufenweise Grundausbildung werden in Zukunft differenziert werden müssen; bei uns in Österreich wird man besonders auf die kunstgewerblichen Handwerksberufe achten müssen, anderswo mehr die stark voranschreitende Automation einbauen müssen.

Ein Team von Pädagogen und Psychologen besichtigte in Deutschland einen automatisierten Bergwerksbetrieb. Der Direktor des Betriebs zeigte ihnen unter anderem einen Förderturm. Der „Türmer“ regulierte nach roten und grünen Lichtsignalen den Ab- und Aufstieg der Fördeikörbe mit Kumpeln oder Kohlen. Nach zweijähriger Praxis beginnt dieser Mann nun unaufmerksam und unverläßlich zu werden, das heißt, seine Spannkraft zu verlieren, wie der Direktor klagte.

Begreiflicherweise fragten die Herren von der Schule, warum denn nicht auch dieser letzte Teil automatisiert werde. Das war nun der rechte Augenblick für den Direktor, den Herren die Augen zu öffnen: „In Wirklichkeit ist das alles ja bereits automatisiert; wenn der Mann einen Hebel falsch bedient, korrigiert sich das elektronisch ganz von selbst.“ Der Mann sei an sich völlig überflüssig, aber er selbst wisse das nicht. Vor allem aber die Kumpels wissen es nicht. Ihretwegen mußte dieser Mann an seine Stelle gesetzt werden.

„Die Kumpels wollen sich nicht einer elektronisch gesteuerten Maschine anvertrauen, wenn sie ein- oder ausfahren. Sie wollen einen lebendigen Menschen da oben sehen, der die Auf- und Abwärtsbewegungen der Förderkörbe sichtbar steuert; zur bloßen selbsttätigen Maschine haben sie noch kein Vertrauen!“

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung