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Chancen für das Baby ohne Arme

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Als die Contergan-Katastrophe Anfang der sechziger Jahre Deutschland erschütterte, waren sie in aller Munde: die „Conter-gan-Kinder”, die mit nur drei oder zwei Fingern, mit verkürztem Arm oder ganz ohne Hand, Fuß oder Bein zur Welt kamen. „Dysmelie” heißt der Fachausdruck für dieses Phänomen der Gliedmaßenschädigung. In Österreich kaum ein Thema, nachdem das „Contergan”, in Deutschland als harmloses Beruhigungsmittel Tausenden von Schwangeren verabreicht, erst gar nicht in den Handel kam. Trotzdem wurden und werden auch hierzulande immer wieder Kinder mit verformten oder nicht vollständigen Gliedmaßen geboren. Die Ursache dafür ist ungeklärt - und der Umgang damit weitgehend auch. In Wien hat daher eine Gruppe betroffener Eltern zur Selbsthilfe gegriffen und sich jetzt im/ „Verein zur Förderung gliedmaßengeschädigter Kinder und Jugendlicher - Interessengemeinschaft Dysmelie” öffentlich organisiert.

„Wir wollen Anlaufstelle für Eltern, aber auch Fachleute sein, um die Kommunikation und Information über spezielle Probleme und Losungsmöglichkeiten anzuregen”, erklärt Verena Zivny, erste Vorsitzende des Vereins. Das betrifft medizinische, therapeutische und orthopädietechnische Probleme genauso wie Fragen der familiären, schulischen und beruflichen Integration. Der

Anspruch, auch für Experten zur Drehscheibe zu werden, hat einen schlichten Grund: Zu selten ist das Phänomen der Dysmelie, als daß sich in Österreich bisher Fachleute mit bereichsübergreifendem Spezial-wissen herausgebildet hätten.

Passender Orthopäde

Für die Eltern bedeutet es eine enorme Hilfe, über den Verein den passenden Orthopäden oder Chirurgen vermittelt zu bekommen oder einfach nur Erfahrungen aus dem Alltag auszutauschen. „Wichtig für die Eltern ist ja immer die Perspektive”, berichtet Zivny, „zu sehen, daß sich Kinder entwickeln können, daß es für das Baby ohne Bein Chancen gibt, laufen und sich bewegen zu lernen.” Zu den regelmäßigen Elterntreffs mit Fachreferenten organisiert der Verein monatlich einen Schwimmkurs unter Anleitung einer Physiotherapeutin und Unterstützung beim Training alltäglicher Verrichtungen. An der Universitätsklinik Heidelberg wurde dafür eigens eine Ergotherapeutin ausgebildet.

Heidelberg verfügt neben Münster und Berlin über das größte Dys-melie-Zentrum, das in Deutschland infolge der Contergan-Affäre entstanden ist. Spezielle Trainingsgeräte wie Anziehstäbe und Hilfen zur Bewältigung hygienischer Probleme wurden dort entwickelt und eingesetzt. „Wir bauen auch Prothesen für Skischuhe oder Schwimmprothesen”, erklärt der zuständige Oberarzt, Jürgen Graf, „viele unserer Patienten mit extremsten Fehlbildungen betreiben sogar in Nichtbehin-derten-Mannschaften Sport”.

Zivny hält den gesellschaftlichen Umgang mit Gliedmaßengeschädigten für „doppelt schwierig, weil das Körperschema durchbrochen ist, und das ruft verstärkt Schreck und Mitleidsreaktionen hervor”. Allerdings, hat Zivny beobachtet, tun sich Kinder bei weitem nicht so schwer wie Erwachsene: „Kinder fragen halt, warum das so ist, und wenn man ihnen erklärt, daß der Behinderte so geboren ist, akzeptieren sie das.” Die meisten der bereits schulpflichtigen Kinder im Wiener Dysmelie-Verein besuchen Integrationsklassen, die seit der Schulgesetznovelle von 1993 Behinderten und Nichtbehinderten gleichermaßen offenstehen.

Gehäufte Missbildungen

Ins öffentliche Gerede ist die Dysmelie nach der Contergan-Katastrophe nur noch einmal gekommen: vergangenes Jahr, als Meldungen über gehäufte Mißbildungen bei Neugeborenen auf der Insel Wight durch die englische Presse jagten. Sofort keimte der Verdacht, die Meeresverschmutzung spiele dabei eine Rolle. Eine ähnliche Diskussion entspann sich kurz darauf in Deutschland, wo in der TV-Sendung „Monitor” eine erhöhte Zahl von Gliedmaßenschädigungen an der Nordseeküste und besonders in der Industrieregion Wilhelmshaven gemeldet wurde. Die Situation in England war bald geklärt. Aufgrund von Registern über Fehlbildungen konnte nachgewiesen werden, daß der angenommene Zusammenhang nicht besteht.

In Deutschland war man auf die -gleichlautende - Einschätzung von Fachleuten angewiesen, weil Register wie in England fehlen. Sie fehlen auch in Österreich. Weder beim europäischen Fehlbildungsregister „Eurocat” (European Registration of Congenital Anomalies and Twins), noch beim Fehlbildungsregister der Weltgesundheitsorganisation (International Celaringhouse for Birth De-fect Monitoring Systems). Allein über diese Register ließen sich aber Aussagen über Zusammenhänge und mögliche Ursachen von Dysmelie treffen, ließen sich Panikmacher entkräften.

Einen Ansatz für die Organisation von aussagekräftigen Registern bietet derzeit das „Mainzer Modell”, ein von Bund und Land Rheinland-Pfalz gefördertes Projekt, das sich durch klare Vorgaben für die Erhebung und Verarbeitung von Daten auszeichnet. Erfaßt werden alle Neugeborenen, die in den drei Mainzer Geburtskliniken zur Welt kommen. Die Angaben über vorhandene oder nicht vorhandene Fehlbildungen werden am Institut für Medizinische Statistik und Dokumentation anonym gespeichert und ausgewertet. Die epidemiologische Auswertung nimmt das Deutsche Krebsforschungszentrum Heidelberg vor.

Jürgen Graf von der Heidelberger Dysmelie-Station glaubt den Grund für die mangelhafte Ursachenforschung bei der Dysmelie zu kennen: „Patienten haben einfach keine Lobby. Von der Industrie ist damit kein Geld zu verdienen.”

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