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Chaos oder Aufbau?

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Nach den zur Zeit geltenden Bestimmungen wird an den Gymnasien in Wien als erste Fremdsprache Englisch, Französisch, Russisch oder Tschechisch, je nach der örtlichen Lage der Schule, unterrichtet. Latein beginnt erst in der 3. Klasse gegenüber der 2. Klasse nach den Lehrplänen von 1927 und der 1. nach denen von 1934. Griechisch erst in der 5. Klasse (gegenüber der 4. beziehungsweise 3. Klasse nach den alten Lehrplänen). Um die Tendenz dieser Neuordnung zu verstehen, ist es notwendig, sich an die beiden Vorträge des Staatssekretärs a. D. Fischer vom 31. Juli und 2. August 1945 vor der Wiener Lehrerschaft zu erinnern, in denen ungefähr folgendes Programm umrissen wurde: Die Ausbildung der Schuljugend zerfällt in drei Abschnitte zu je vier Jahren: Volksschule, Einheitsschule, Obermittelschule. Die Einheitsschule umfaßt sämtliche Jugendlichen zwischen dem' IC. und 14. Lebensjahr und hat als erste Fremdsprache Englisch, aL zweite eine slawische Sprache (Russisch, Tschechisch oder Slowenisch). Erst ab der 5. Klasse ergeben sich die Aufspaltungen in die Typen Gymnasium, Realgymnasium, Realschule und einen eventuellen neuen Typ.

Der zur Zeit geltende Übergangs-1 e h r p 1 a n stellt also eine Vermittlung zwischen diesem Ziel und dem Lehrplan von 1927 dar. Rein äußerlich ist durch die Verschiedenheit der Grundsprache bei den Gymnasien befeits ein heilloses Durcheinander erreicht, so daß von einem Gymnasium als Schultyp eigentlich nicht mehr die Rede sein kann und ein Schulwechsel geradezu ausgeschlossen ist. Zieht man die in den Bundesländern geltenden Richtlinien in Betracht, so kann nur noch von einem Chaos, aber nicht mehr von einer Schulordnung die Rede sein. E erübrigt sich, darauf hinzuweisen, daß mit einer Weiterentwicklung des Schulwesens in dieser Richtung die qualitativen Erfolge der österreichischen Schule sehr in Frage gestellt werden, ohne daß es möglich oder berechtigt wäre, dafür allein die pädagogische Schwerfälligkeit oder Rückständigkeit der Lehrerschaft verantwortlich zu machen. Zweck der Schule ist es, dem heranwachsenden Menschen jenes Selbstbewußtsein zu verleihen, das aus der Entfaltung seiner individuellen Fähigkeiten entspringt. Man kann einen vorwiegend praktisch veranlagten Menschen nicht zwangsweise zu einem theoretischen Typ machen wie es auch sinnlos ist, theoretische Begabungen dadurch unentwickelt zu lassen, daß das Niveau einer Klasse sich nach unten hin senkt. Es ist eine nicht gerade hohe Auffassung von dem Wert aller handwerklichen Berufe, wenn man als Norm der Bildung für das Volksganze die Mittelschule ansieht und diese zu einem Zwittergebilde zwischen ehemaliger Hauptschule und einer Oberstufe ausbauen will: Lehrauf bau, Lehrziel, gar nicht zu reden vom Lehrkörper, wären so grundsätzlich verschieden, daß wir wohl endgültig von der Gründlichkeit der alten österreichischen Schule uns lossagten.

Doch bleiben wir bei den Unterrichtsfächern Latein und Griechisch. Stundenmäßig ist die hiefür vorgesehene Zeit im Übergangslehrplan zwar noch sehr hoch. Dies wurde dadurch erreicht, daß an der Oberstufe die moderne Sprache ab der 7. Klasse gänzlich aufhört, die realistischen Fächer auf ein geradezu lächerliches Minimum heruntergesetzt wurden. Würde dieser Zustand beibehalten, so würde der Vorwurf, den man so gern unter den Mittelschulen alter Art gerade dem Gymnasium macht, daß es zur Lebensferne erziehe und eine vollständig-rückständige Bildung vermittle, wirklich den Tatsachen entsprechen. Die Ansetzung der modernen Sprache — jede der in Frage kommenden wird mit der geographischen Lage Österreichs begründet — als erste Fremd spräche am Gymnasium widerspricht aller bisher in diesem Schultyp gemachten Erfahrungen: denn nicht nur in der Erlernung von Französisch und Italienisch, sondern auch

von Englisch sind die Erfolge, wenn mindestens Latein vorausgesetzt werden kann, so unglaublich größere, daß, wie Lehrer dieser Sprachen immer wieder betonen, in einem Jahr spielend das gelernt wird, was im umgekehrten Falle nicht in drei Jahren zu erreichen ist. Gerade die Jahre zwischen dem 10. und 14. Lebensjahr sind dadurch, daß die logische und reflektierende Betrachtungsweise noch zurücktritt, durch einen starken Wissens- und Tatsachendrang gekennzeichnet, der alles zum Gedächtnisstoff machen will. Diese Jahre, die mithin für die Aneignung von Elementarkenntnissen und ihre Einübung besonders geeignet sind, bleiben aber für die alten Sprachen unausgenützt und die Erwerbung der Grundkenntnisse erfolgt in einer Zeit, wo bereits mit Verständnis zur Schriftstellerlektüre geschritten werden könnte. Diese aber gipfelt statt in einer Vermittlung der antiken K u 11 u r in einer Anekdorenlektüre (zur Zeit an einer ganzen Reihe von Schulen in der Lesung von Cäsar oder Ovid).

Auch die extremsten Gegner der alten Sprachen sind von deren Wert für die Ausbildung des formallogischen Denkens überzeugt. Wie soll aber dieses Ziel erreicht werden, wenn jede Rückübersetzung von der Muttersprache in das Lateinische entfällt und

nur ein passives Nachdenken vom Lateinischen ins Deutsche erfolgt? Noch mehr werden die anderen Ziele in eine unerreichbare Ferne gerückt: aus der Lektüre Einblick in die Kultur und das Denken der Antike zu gewinnen. Nur allzu leicht droht bei einem schwachen Fundament der Elementarkenntnisse die Gefahr, daß die Schriftstellericktüre sich mit den repräsentativen Werken überhaupt nicht beschäftigen kann.

Durch die eigenartige Verteilung der Lehrfächer am Gymnasium *wird aber die Kluft zwischen diesem und der Hochschule immer größer, und wollen die Hochsdiullehrer nicht zu leeren Wänden reden, so müssen sie das Niveau ihrer Vorlesungen so senken, daß sie zu einfachen Einpaukkursen werden und auf die Heranbildung von selbständigen Forschern und Denkern verzichtet wird. Gerade damit aber hätten wir auf geistigem Gebiet das erreicht, was vermieden werden soll: daß nur diejenigen, die auf Gruna finanzieller Sicherstellung sich vollständig wissensdiafthcher Forschung widmen können, sich audi von der allgemeinen Nivfau--enkung frei halten können.

Die Ausbildung des logischen Denkens, die •loß historische Betrachtung der Antike als •Culturparadigma oder die ästhetische Wertung ihrer Kunst und Literatur sind zweifelsohne wertvolle Ziele, aber, selbst vorausgesetzt, sie könnten auf Grund geeigneter

Lehrpläne erreicht werden, doch in gewissem Sinne zu wenig, um Latein und Griechisch als Unterrichtsgegenstände an einer Mittelschule zu begründen. Die gleiche Begründung wurde vor nicht allzu langer Zeit von höherer Stelle aus der Indologie und Sinologie eingeräumt. Das Interesse allein macht aber ihren speziellen Wert nicht aus. Die Tatsache, daß wir durch die Antike Einblick in das Denken des Menschen bekommen, der, gestützt allein von seinen natürlichen Fähigkeiten, den Weg bis an die Grenze des menschlichen Erkennens gefunden hat, geht über das bloß Historische hinaus. Der Aufstieg zu Gott und doch die Unsicherheit des auf sich selbst gestellten Menschen in der Zeit vor dem Erscheinen Christi auf Erden wird in seinem ganzen dramatischen Ablauf offenbar, ein Ringen, das überall dort durchgekämpft werden muß, wo die Menschen-seele sich ihrer Ebenbildlichkeit bewußt wird. Alles, was schon wenige Jahrzehnte später im Abendland und Vorderen Orient gedacht und über die letzten Dinge des Menschen geschrieben wurde, wird immer mehr und mehr im Hinblick auf die neue Lehre betrachtet, zustimmend oder ablehnend. Diese einst historische Auseinandersetztung zwischen Antike und Christentum ist immer gleich zeitnah, da sie von jedem einzelnen Menschen durchgerungen werden muß, wenn er sich nicht der vollen Wirklichkeit gegenüber verschließen will.

Diese einst selbstverständliche Einstellung wurde durch eine überstarke, rein historische Betrachtungsweise verdrängt. Der Blick auf das Absolute wurde als rückständig bezeichnet und an seine Stelle eine evolutionistische Betrachtungsweise .gesetzt, das künstlerisch Vollkommene allein als gültig angesehen. Wohl waren die philologischen Erkenntnisse erstaunlich, aber der Blick für die Grenze der Antike war getrübt. So galt alles, was der formalen Klassik und Stilistik nicht entsprach, seltsamerweise auch inhaltlich als Verfallsprodukt, als Einbruch des Orients und des Barbarentums. Es ist nicht verwunderlich, daß der Nationalsozialismus begeistert diese Gedanken aufgriff, und diesen „Verfall“ auf

seine Weise aus dem Rasscnverfail erklärte.

Der Hinweis, daß andere Länder sich nicht in einem so starken Maße mit den alten Sprachen beschäftigen, ist nur zum Teil richtig und trifft nicht für die romanischen Staaten, England und Skandinavien zu. Außerdem sind die Aufgaben eines jeden Volkes verschieden. Als Wirtschaftsfaktor spielt Österreidi zweifelsohne eine untergeordnete Rolle. Um so größer aber ist seine Bedeutung als Mittler zwischen Nord und Süd, West und Ost. An seine Grenzen pochen ebenso Menschen mit kühlem Verstand wie mit glühendem Glauben, mit Skepsis und mit Mystik, temperamentvolle und abgeklärte Völker. Und innerhalb seiner Grenzen braucht Österreich Menschen, die alle diese Spannungen zu ertragen vermögen, um im wahrsten Sinne als christliche Humanisten durch ihr Leben den Wahlspruch zu verwirklichen, der in diesem Jahre der Arbeit der Katholischen Akademie vorangestellt wurde: veritas congaudet caritate.

Es erscheint uns als notwendig, innerhalb der Mittelschulen dem einheitlich aufgebauten Gymnasium jenen alten Aufbau wieder zu geben, der es befähigt, wirkliche Humanisten heranzubilden, nicht aber junge Menschen, die einen dürftigen Auszug aus einem Konversationslexikon als Bildung ansehen.

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