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Das bittere Erbe

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Der Nachfolger ist nicht zu beneiden. Nicht nur, daß es ganz allgemein auch für einen aktiven, sympathischen, erfolgversprechenden jungen Nachwuchspolitiker schwer ist, das Erbe eines besonders profilierten, gerade durch seinen Rücktritt zu ungeahnter Popularität aufgestiegenen Vorgängers anzutreten. Mehr noch muß ihn belasten, daß er mit dem Amt auch den Auftrag übernehmen mußte, das zu liquidieren, wofür der Vorgänger auf die Barrikaden gestiegen war; Weichen zu stellen, deren Richtung noch gar nicht abzusehen ist; das durchsetzen zu sollen, wofür bisher vergeblich Unterstützung gefordert worden war. Österreichs neuer Unterrichtsminister Dr. Alois Mock steht vor kaum lösbaren Aufgaben.

339.404 Unterschriften unter ein Volksbegehren sind zweifellos eine Demonstration, die ernstgenommen werden muß — aber in allen ihren Aspekten. Unbestritten ist, daß diese Demonstration der Ausdruck eines latenten Unbehagens war — ebenso wie seinerzeit das Rundfunk-Volksbegehren weit über das angesprochene Ziel der Rundfunkreform hinaus das Unbehagen am Zustand der damaligen Koalition ausdrückte. Das Unbehagen am geltenden Schulsystem kristallisierte sich an dem durch die Bildungsexplosion, durch den verstärkten Zuzug zu den höheren Schulen verursachten Lehrerund Schulraummangel, an gewissen, von außen her der Schule aufgepfropften systemwidrigen Belastungen — vor 'allem war es aber wohl dadurch verursacht, daß die unmittelbar Beteiligten, die Eltern und die Lehrer, zu wenig intensiv über Ziel, Sinn und Inhalt der Schulreform 1962 einschließlich der Verlängerung der Schulzeit aufgeklärt worden waren. Mangelhafte Information aber ist immer der Urgrund aller Mißverständnisse. Das Unbehagen krampfte sich dann am 9. Jahr der höheren Schule fest, das noch gar nicht Wirklichkeit geworden ist. Man schlug den Sack und meinte den Esel. Nun hat der neue Minister den Sack in der Hand und soll dafür sorgen, daß der Esel in die gewünschte Richtung läuft. Welche Richtung aber soll dies sein? Soll der Esel später einmal den Sack wieder aufnehmen oder auf Dauer ohne ihn weiterlaufen? Der Wortlaut des Volksbegehrens fordert die Abschaffung der neunten Klasse — einschließlich der fünften Klasse des Musisch-Pädagogischen Realgymnasiums — obwohl sich die Mehrzahl der proponierenden Vereinigungen für eine Aussetzung aussprach, die Zeit für eine grundlegende Reform der Oberstufe (unter Beibehaltung der 13 Jahre Gesamtzeit) bieten sollte. Ob Abschaffung oder Aussetzung — für beides wäre eine Änderung der Schulgesetze 1962 nötig und damit auch für beides die Zustimmung der SPÖ.

Unter dem Druck der Bewegung für das Volksbegehren hatte sich in den vergangenen Monaten die groteske Situation ergeben, daß der Minister, der seit Jahren unter dem gezielten Feuer der Opposition gestanden war, nun plötzlich die einzige Zustimmung gerade von dort erhielt, während die eigene Partei glaubte, „echte Neutralität“ wahren zu müssen. Die Sozialisten waren selbst zu Reformverhandlungen — über den Gesamtkomplex der höheren Schule —: bereit, ja hatten diese heftig gefordert. Sie wären wohl auch geneigt gewesen, dem alten Minister gegenüber den Preis für ihre Zustimmung zu einer Fristerstreckung niedriger anzusetzen als jetzt dem neuen -Mann gegenüber — sicherlich aber nicht unter dem Termindruck des bevorstehenden Saisonschlusses. Den Preis, der ihnen den Verzicht auf das 13. Jahr wert gewesen wäre, hatten sie schon früher genannt: die Einheitsschule bis zum 14. Lebensjahr.

Das ist die erste Hürde, die Minister Mock zu überspringen hat, ohne dazu den nötigen Anlauf nehmen zu können. Gesetzt den Fall, es gelingt ihm, sie zu nehmen, ohne einen Preis zahlen zu müssen, der aus sich heraus wieder neue Konfliktstoffe aufwirft. Dann gilt es, den mit einer Gesetzesänderung verbundenen Auftrag zu erfüllen — sei es, während der mit einer Aussetzung gewonnenen Zeit eine völlige Neu-struktunierung der Oberstufe mit allen ihren über die Schule hinausreichenden Folgerungen auszuarbeiten und durchzuspielen, sei es, nach einer Kastrierung des Schulwerkes von 1962, die verbliebenen acht Jahre so zu gestalten, daß der angestrebte Blildungseffekt trotzdem erhalten bleibt.

Natürlich, kann der neue Minister auf die. Vorarbeiten zurückgreifen, die der alte hinterließ, denn auch dieser mußte sich auf alle möglichen Versionen einstellen. Es genügt aber nicht, die für fünf Jahre ausgearbeiteten Lehrpläne auf vier Jahre zusammenizuschneiden und für die schon im neuen Stil angelaufenen Klassen eine Notlösung zu finden. Soll die im beliebten Schlagwort angepeilte „Schule des Jahres 2000“ entstehen, so wird man nicht nur 'alle divergierenden Meinungen, was darunter zu verstehen sei, auf einen Nenner bringen, sondern auch alle ihre Elemente wissenschaftlich analysieren, ihre Strukturen wissenschaftlich erarbeiten müssen. Zu diesem Zweck hatte Minister Piffl sein Projekt einer Hochschule für Bil-dungswissenschaften entwickelt, Ohne hierfür die notwendige Schützenhilfe zu finden. Das mangelnde Verständnis für diese Notwendigkeiten hat mit zu seinem Rücktrittsbeschluß beigetragen.

Ebenso hatte Piffl vergeblich nach Hilfe für die rein materiellen Voraussetzungen zur Behebung der Schulmisere gerufen. Mit oder ohne neuntem Jahr — ohne eine merkbare Forcierung des SchuJbaus wird das daran anknüpfende Unbehagen nicht beseitigt werden können. Wird sich das oft beobachtete Phänomen wiederholen, daß man dem neuen Mann gewähren muß, was man dem alten versagt hatte, weil sich eben sehr bald herausstellt, daß seine Forderungen begründet waren?

Minister Mock tritt ein schweres Erbe 'an. „Viel zu verheizen hat die ÖVP nicht mehr!“ warnte die „Presse“ am Vorabend der großen Entscheidung. Dieses auf den ausgeschiedenen Minister gezielte Wort gilt nicht weniger auch für den neuen. Er wird nur dann diesem Erbe zum Erfolg verhelfen können, wenn alle hinter ihm stehen, denen die Schule als Lebensfrage unseres Volkes am Herzen liegt. Ohne die Mithilfe aller in Universität, Schule, Verwaltung und vor allem in seiner Partei kann auch der beste, aktivste Minister den Karren nicht aus dem Dreck ziehen, in den ihn nicht der frühere Kutscher, sondern die vielen ungebetenen Bremser hineingestoßen h'aiben.

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