"Das hab ich hundertmal gesagt!"

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Dem derzeit tobenden Streit um das richtige Erziehungskonzept liegt eine Frage zugrunde: Wie soll das Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern gestaltet sein? Eine Analyse von Regine Bogensberger

Der Bann ist gebrochen. Es ist wieder salonfähig. Seit der Kinder- und Jugendpsychiater Michael Winterhoff im vergangenen Jahr in seinem Bestseller "Warum unsere Kinder Tyrannen werden" die Abschaffung der Kindheit beklagte, darf es wieder ausgesprochen werden, was in einem kurzen Zeitfenster als ziemlich unkorrekt gegolten hat: Die angeblich rasante Ausbreitung heranwachsender Tyrannen und Monster in unseren Kinderzimmern oder Schulklassen.

Vertreter des als "Kuschelpädagogik" verunglimpften partnerschaftlichen Erziehungskonzeptes schossen unter Fahnenführung des Familientherapeuten Wolfgang Bergmann (siehe unten) zurück. Und kaum wo entspinnen sich ähnlich hitzige Wortgefechte, als wenn es um die Erziehung unseres Nachwuchses geht, der, so sind sich sogar Vertreter beider Konzepte einig, immer verhaltensauffälliger wird: Als Ursache werden einmal mehr die Auflösung alter Werte und Strukturen und die damit zusammenhängende Orientierungslosigkeit der Erwachsenen ausgemacht, die sich auf die Kinder niederschlägt. Im Zentrum des Streits um das richtige Erziehungskonzept steht eine Frage: Welches Verhältnis sollen Erwachsene - Eltern, Pädagogen, Pädagoginnen und die Gesellschaft an sich - zu ihren Kindern oder zu Kindern generell einnehmen?

Das Kind als Partner?

Für Winterhoff ist eines klar und er sieht sich aufgrund des Kauferfolges seiner Bücher bestätigt: "Kinder müssen wieder als Kinder gesehen werden. Heute sind wir dazu übergegangen, sie uns als kleine Erwachsene ebenbürtig zu machen und damit restlos zu überfordern", schreibt Winterhoff in seinem vor einem Jahr erschienen Buch, das hohe Wellen schlug: "Warum unsere Kinder Tyrannen werden". Kürzlich reichte er ein zweites Buch nach: "Tyrannen müssen nicht sein" (siehe unten). Die Quintessenz beider Bücher: Weg mit dem Übel des Konzepts "Kind als Partner". Kinder sollen als Kinder behandelt werden. Nur so könnten diese auch in ihrer Psyche angemessen reifen. Das partnerschaftliche Konzept hat laut Winterhoff bei älteren Kindern durchaus seine Berechtigung, bei kleinen Kindern aber führe es im Extremfall zu Absurditäten, wie der gern zitierte und auch von Winterhoff angeführte Fall: Eine Mutter fuhr bei kühlen Temperaturen ihr nacktes Kleinkind auf dem Fahrradsitz durch München. Als die Mutter, sogar Anwältin, von der Polizei darauf angesprochen wurde, erklärte sie laut Medienberichten: Ihr Kind wollte sich nicht anziehen, man müsse den Willen des Kindes respektieren.

Winterhoff nennt außer dem seiner Meinung nach falschen Konzept "Kind als Partner" noch zwei weitere Beziehungsstörungen: Das Kind diene dazu, dass Eltern sich gut fühlen könnten (Projektion) und zweitens die Symbiose: Eltern würden überhaupt das Kind als Teil ihres Körpers wahrnehmen. Seine Antwort: Kinder sollen wieder als Kinder wahrgenommen werden. Das bedeutet konkret: Mehr Abgrenzung, mehr Strukturen, weniger Erklären und Verhandeln, mehr Entscheidungsgewalt der Eltern, aber das alles liebevoll, fügt er hinzu, um möglichen Kritikern gleich den Wind aus ihren Segeln zu nehmen. Und vor allem wieder mehr elterliche Intuition und ein Zurück zur "natürlichen Hierarchie".

Doch Intuitionen sind sehr individuell und so manche Tradition oder angeblich natürliche Ordnung hinterfragbar - und zum Glück durchbrochen, könnte der erste Einwand lauten.

Und weitere Einwände ließen nicht lange auf sich warten: Schluss mit diesem hohen Lied auf die Disziplin, fordert sein lautester Gegner in Gestalt von Wolfgang Bergmann. Der warnt davor, dass in der ganzen Diskussion um angeblich kleine Tyrannen eines zu kurz komme: Das Glück mit Kindern. Obwohl Bergmann einiges an Winterhoffs These zerpflückt, er geht auf eine Schwachstelle in dessen Konzept nicht ausführlich ein. Winterhoff redet ständig vom "Kind als Partner" und meint das Miteinbeziehen des Kindes in Entscheidungen als gleichwertiger oder -rangiger Mitmensch, das Ausdiskutieren und Erklären, das vor allem kleine Kinder nur überfordern würde und älteren jeden Respekt von den Erwachsenen raube.

Winterhoff dürfte etwas anderes darunter verstehen als der dänische Familientherapeut Jesper Juul, der in dieser Hinsicht das eigentliche Gegenkonzept darstellt. Juul geht davon aus, dass Kinder von Geburt an kompetente kleine Menschen sind, die ihre Bedürfnisse klar zu erkennen geben. Ebenso haben Kinder ein Sensorium für latente, unterdrückte Konflikte und Störungen im System Familie. Juuls Konzept geht von einer "Gleichwürdigkeit" aus, was eine Gleichberechtigung der Bedürfnisse aller Mitglieder eines Systems bedeutet. Erziehung ist demnach gegenseitiges Lernen und Wachsen. Nur wenn Kinder ihre Bedürfnisse wahrnehmen lernen und auch das Gefühl haben, dass ihre Bedürfnisse von den Bezugspersonen respektiert werden, kann ein Gefühl für sich und somit Selbstbewusstsein reifen. Juul betont in seinem Buch "Das kompetente Kind" (Rowohlt, 6. Auflage, 2006), "dass das Verhalten der Kinder, sei es harmonisch oder disharmonisch, genauso wichtig für die menschliche Entwicklung und Gesundheit der Eltern ist wie das Verhalten der Eltern für die der Kinder. Die Interaktion zwischen Erwachsenen und Kindern ist ein gegenseitiger Lernprozess, wobei der Grad der gleichen Würde direkt proportional zu dem Gewinn beider Partner ist." Juul bringt es überspitzt auf den Punkt: "Kinder sind am wertvollsten für das Leben ihrer Eltern, wenn die sie am beschwerlichsten finden!"

Natürlich, so Juul, gebe es ein unvermeidliches Machtgefälle zwischen Erwachsenen und Kind. Erwachsene haben eben einen Erfahrungsvorsprung und Kinder Schutzbedürfnisse. Für Juul stellt das aber keinen Widerspruch zu seinem Konzept einer Partnerschaft dar, das durch den Respekt vor der gleichen Würde des anderen geprägt ist. Auch für ihn gilt: Lernen am Vorbild.

"Leben mit Kindern macht Spaß"

Das gegenseitige Lernen spricht auch Bergmann an, wenn er vom Glück mit Kindern schreibt: "Das ist Empfindsamkeit für die Kleinen, dabei werden wir auch empfindsamer für uns selber und für die ganze Welt, das ist die Wiedergewinnung der Achtsamkeit." Das Glück, das man mit Kindern empfinde, den Spaß, den man erlebe, der bringe Kinder in ihrer Entwicklung weiter.

Sowohl Winterhoff als auch Bergmann sind sich in ihrer Analyse ja einig, dass die Verhaltensauffälligkeit vieler Kinder Symptom für den Zustand der Gesellschaft ist, in der sie leben. Und das ist auch der Punkt, den Winterhoff nicht zu Ende denkt: Bevor wir in Kindern reifende Tyrannen wahrnehmen, sollten die Erwachsenen in den Spiegel und danach erst auf die Kinder schauen. Der genaue Blick würde enthüllen: Es geht ums Vorbild und um sichere Bindungen von Geburt an. Auch darauf geht Winterhoff kaum ein. Und wenn unsere Kleinen vehement zu einem sagen: "Mama, jetzt hab ich dir das schon hundertmal gesagt …" oder "Papa, ein Nein ist ein Nein", dann wissen Sie, wer erste Ansätze zum Tyrannen gelegt hat.

Was beim aktuellen Erziehungsstreit als Randnotiz auffällt, ist die Dominanz männlicher Autoren, als ob die Frauen als Mamas und Pädagoginnen nur den Praxistest antreten dürften. Es kann Zufall sein, es kann mit mangelndem Mut oder mit fehlender Zeit zu tun haben. Aber gerade, wenn es um Hierarchien geht, sollte eine weibliche Fachstimme ein gewichtiges Wort mitreden.

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