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Das mißverstandene Gespräch

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Der Problemkreis schließt die außerparlamentarische Opposition ein, die dort erscheint, wo „Staat“ und „Gesellschaft“ wieder Zusammentreffen und zusammenwachsen: Ziemlich fassungslos steht die parlamentarische Demokratie vor dem Ereignis. Versteht man den „Strukturwandel der Demokratie“, nimmt sich die außerparlamentarische Opposition anders aus. Sicherlich, mit Gewalt hat das nicht das Mindeste zu schaffen; im Gegenteil, Gewalt verkehrt den legitimen Sinn einer legitimen Evolution, die Hans Kelsen vor einem halben Jahrhundert vorausgesehen und der Bundesverfassung institutionell eingeschwungen hatte: die Wendung zum Plebiszit, das die parlamentarisch-repräsentative Komponente der Demokratie nicht ersetzen, wohl komplementär ergänzen soll. Im „modernen Staat“, namentlich im Staat des 19. Jahrhunderts, über den wir ein gut Stück hinausgewachsen sind, ist das Parlament der einzige rechtmäßige Ort der Gesellschaft, zugleich die Klammer, die die Gesellschaft mit dem Staat zusammenbringt und Zusammenhalt; der Staat, das ist die Obrigkeit mit dem Fürsten an der Spitze. Der Gegenwartsstaat ist in seinem gesellschaftlichen Grundgefüge kein Obrigkeitsstaat mehr. Nicht ist die Gesellschaft verstaatlicht, vielmehr ist in der demokratisch-republikanischen politischen Ordnung der Staat mehr und mehr vergesellschaftet („sozialisiert“). Die Wissenschaft, mit ihr der Student als ihr sozusagen biologisches Substrat und geistiges Reservoir, gehört zum Kernbereich der Gesellschaft. Im Parlament hat man der Wissenschaft keinen Platz zugewiesen, so meldet sich der Student aus einer anderen Ecke zu Wort; der Professor meint, er fahre besser, wenn er schweigt (was ein grober Irrtum ist und Säumnis zu Last legt). Das Parlament ist wohl unentbehrlich, seine Funktion unersetzlich, als einzige institutionelle Wirkstätte der Gesellschaft ist es zu schmal. In der Gegenwartsdemokratie ist nahezu die ganze Basis der flachen Sozialpyramide das geworden, was man die „gebildete“ die „mündige“ Gesellschaft nennt: Jedermann, nicht nur ein exklusiver, elitärer Reprä- sentatenklub besitzt das politische Mandat, vollends der Jungintellektuelle, der Student; er ist befugt wie verpflichtet, sich über alle Probleme der Mitwelt und Umwelt den Kopf zu zerbrechen. Alle Ordnungsgenossen wirken in einer Demokratie grundsätzlich an allen Akten der Ordnung mit, die sie betreut. Österreichs Verfassung bietet, zum Unterschied vom Großteil der übrigen

Staaten, den Vorzug, die plebiszitäre Komponente der Demokratie zu esti- mieren: Warum setzen beispielshalber Professoren und Studenten nicht ein Volksbegehren in Gang, um der Bildungs- und Wissenschaftspolitik im Staatshaushalt jenen Rang zu er- streiten, der ihrem Gewicht in der Gegenwartsgesellschaft entspricht — um obendrein neue ständige Finanz-

Photo: „Europa quellen des öffentlichen wie des privaten Bereiches zu erschließen? Das geht jeden Österreicher an — und ein zweitesmal wird das Parlament ein Volksbegehren zur Kenntnis nehmen und behandeln, wie es gemeint ist!

Was an der studentischen Unruhe auf fällt

Allein, das sind Teilaspekte. Suchen wir den ganzen Horizont ab. Zunächst sei festgehalten, was an der allgegenwärtigen studentischen Unruhe auffällt:

1. Es sind die hellsten Köpfe, die das Wort führen.

2. Es sind reife, mündige Jungintellektuelle, von denen einige zu lang studieren; ihre Altersgenossen stehen im Beruf und tragen Verantwortung, die sie engagiert.

3. Richtig, es sand wenige unter ihnen, die Technik, Medizin, Naturwissenschaft studieren; doch nicht deshalb, weil „die anderen zuviel Zeit haben“, sondern weil das Fachstudium wenig Spielraum zum freien Denken öffnet, was auch der namhafte schweizerische Arzt und Schriftsteller A. R. Bodenheimer zu erwägen gibt („NZZ“, Nr. 133 vom 10. Mai 1968, Seite 37). Der Naturwissenschaftler, Mediziner und Techniker, sie vergessen nur allzugern und allzuleicht, daß ihr Wirken die geordnete Lösung politischer und sozialer Probleme voraussetzt.

4. Was den Studenten bewegt, sind keine sozialökonomischen Nöte; was sie bedrängt und zum politischen Aktivismus zwingt, sind typisch denkerische, intellektuelle, geistige Probleme. — Wir schauen einer gewaltigen Reprise zu: Die Sophisten haben vor Zweieinhalbjahr- tausenden das Drama uraufgeführt, bloß daß auf deren gewaltlose, redliche, intellektuelle Herausforderung postwendend eine gewaltlose, redliche, intellektuelle Antwort folgt! — Und es sind echte Gewissensnöte, moralische Probleme, die den Studenten treiben. Sind sexuelle Probleme etwa keine moralischen Probleme, mag einer die Moral noch so autonom und autokephal verstehen? Ist die Frage nach einer Notstandsregelung durch die Verfassung kein schweres Kreuz für den Freistaat, den Rechtsstaat, die Demokratie, die über ihr Prinzip hinausgreifen, um sich zu behaupten? Die Rassenfrage, brennt die nicht jeden im Gewissen, der das Dasein bewußt lebt, mögen die Gegenargumente noch so schwer an Ort und Stelle wiegen? Unser Überfluß, wer kann ihn ruhigen Gewissens genießen, dieweilen zwei Drittel der Menschheit hungert? Hungert, nicht weil wir nicht zu helfen, nicht zu opfern bereit wären, sondern einfach deshalb, weil wir, aller Technik zum Trotz, bis zur Stunde außerstande sind, eine wirksame Technik der Verteilung herauszuflnden. Ist der Vietnamkrieg nicht eine urwüchsige Gewissensfrage? Kann es noch ein bellum iustum geben? Daß dies ein Problem im technischen Zeitalter ist, wird doch niemand ernsthaft bestreiten. — Dieser, jener Interpret geht so weit, zu behaupten, daß auf solchem Umweg und insgeheim ein Prozeß läuft, der im Grunde die Welt rechristianisiert. Daniel Moynihan, USA, auf die Neue Linke zeigend: „Ich möchte sagen, daß es Christen sind…“

5. Den Studenten mißlingt es, klar auszudrücken, was sie wollen. Schön, aber heißt es nicht: omnis deflnitio negatio? Und was sie nicht wollen, das ist klar.

6. Das alles stimmt jeden glücklich, sollte glücklich stimmen. Sorge bereitet dies: Die Studenten zeigen, daß sie sich der Stärke ihrer Position bewußt sind, weil die Verantwortlichen sie haben zu lange warten lassen. Rudi Dutschke: „Vor zwei Jahren hätte man uns noch in den

Griff bekommen!“ Sie trauen keinem mehr über den Weg, wenn er die Schwelle der Dreißiger überschritten hat. Allezeit reißt der Generationenwechsel Väter und Söhne auseinander, bloß daß die Gegenwart zwischen ihnen einen Graben zieht, dessen Breite und Tiefe ihresgleichen in der Geschichte suchen. Nichts ist, wie es war. Kernphysik, Elektronik, Kybernetik, Computer; das allgegenwärtige Ohr und Auge, denen kein Winkel verborgen bleibt; Massenmedien, Weltkommunikation, die die Erde im Nu in einen Markt verwandelt; Weltall, Bewältigung von Raum und Zeit; Biotechnik, genetische Steuerung: sie bauen eine Welt, die noch nicht ist, und sie haben eine Welt verdrängt, die nicht mehr ist, aber in den Vätern fortlebt. Das Mißverständnis ist hoffnungslos, kommt aus der Wurzel; keiner hat es verschuldet, keiner es gewollt.

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