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Das Problem der Familie

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Einberufen von einem Frauenzentralkomitee der Sozialistischen Partei, tagte letzte Woche in Wien eine dreitägige Enquete, die unter Teilnahme von Fachleuten die heutigen geistigen und seelischen Probleme der Jugend und ihre sozialen Ursachen zu erkunden hatte. Der sachliche Ertrag ist beachtlich und nicht zuletzt deshalb wichtig, weil er Wahrheiten aufzeigte, zu denen bisher eine materialistische Gesellschaftskritik nicht hinfand; sie erwachsen erkennbar aus denselben Erfahrungen und münden in ähnliche Folgerungen, wie sie von der katholischen Jugendfürsorge und Caritasarbeit festgestellt worden sind. Die Jugendprobleme, mit deren erschreckender Größe die Gegenwart täglich konfrontiert wird, sind in Wahrheit das Problem der Familie, das wiederum eine seiner Hauptwurzeln in der Wohnungsnot hat.

Das Referat, das am ersten Enquetetag die Leiterin der Wiener städtischen Fürsorgerinnenschule, Frau Dr. Nuna S a i-1 e r, erstattete, entrollte ein konkretes Material von eindringlicher Beweisführung. Die Referentin erinnerte schon eingangs ihrer Darlegungen an die charakteristische Tatsache, daß 4,5 Prozent aller österreichischen Familien überhaupt ohne eigene Wohnung seien, also in der eigenen Heimat heimatlos sind, von den Familien, die eine Wohnung höben, der größte Teil nur ein oder zwei Räume besitzt und Wien — wir folgen in der Wiedergabe der Ausführungen der Referentin dem sozialistischen Zeitungsberichte — noch immer mehr als zwei Drittel aller Wohnungen nur aus Zimmer und Küche bestehen. Nur jede zehnte Wohnung hat ein Badezimmer, der Großteil der Wohnungen nicht einmal ein eigenes Klosett und eine efgene Wasserleitung.

Die Fürsorgerinnen sehen — berichtete Frau Dr. Sailer — bei ihren Besuchen er-

schütternde Zustände: vierjährige Kinder schlafen noch in Wiegen, Kinderwagen oder Kisterln, Laden, Koffer, zusammengestellte Stockerln und ähnliche Provisorien gelten als .Betten“. Bei einer größeren Umfrage wurde festgestellt, daß zwölf Prozent aller Kinder im Ehebett ihrer Eltern schlafen. Ungefähr der zehnte Teil von ihnen ist 14 bis 18 Jahre alt! Als zwei neunjährige Schwestern aus Favoriten geschlechtskrank wurden, untersuchte man die Schlafverhältnisse der ganzen Schulklasse. Es stellte sich heraus, daß von 36 Kindern nur zwanzig eine eigene Schlafstelle hatten. Die anderen schliefen mit Geschwistern, oft Buben und Mädel, in einem Bett. Die Enge beeinflußt schon das Leben des Kleinkindes: in den ersten Lebensjahren, in denen es den Raum erobern soll, kann es sich nicht bewegen und wird von allen Seiten eingezwängt. Später kann das Kind in der engen Wohnung nicht lernen und Schulaufgaben machen. In der Pubertät ist die Wohnungsenge für die geschlechtliche Erziehung des Kindes verderblich. Eine gesündere Jugend wollen, heißt daher: Mehr Wohnungen und bessere Wohnungen bauenl

In dejr Wohnungsnot wie in der allgemeinen Krise des Familienlebens sieht die Referentin die Ursache für die Kompliziertheit des Jugendproblems. Sie nannte die Dinge tapfer beim Namen: auf 72.000 Ehen im Jahre 1949 kommen 18.000 Scheidungen. Heute haben fast vierzig Prozent aller Kinder keinen Vater. 20 Prozent sind unehelich zur Welt gekommen, ein großer Teil stammt aus geschiedenen Ehen, die restlichen sind Waisen. Dazu kommen noch viele “Kinder, deren Eltern praktisch getrennt leben. Das Fehlen des Vaters macht sich für den jungen Mensdhen ungünstig bemerkbar. Das Familienproblem ist von allen Jugendproblemen am schwersten zu lösen. Nicht eine Remedur der Übel, aber eine Verminderung der Schwierigkeiten der Familie sieht die Referentin in sozialen Institutionen wie Kindergärten, Lehrwerkstätten, Lehrlingsheimen, und sie empfahl Maßnahmen, welche die jungen Mütter für die ersten Lebensjahre ihres Kindes für die Familienpflege in höherem Maße freistellen! die Sprecherin vermerkte mit einem begreiflich schmerzlichen Nebenblick, daß nur katholische Halbinternate bestehen, die für Kinder sorgen, deren Mütter in der Arbeit stehen.

An ein anderes Problem, das die Situation der Zwischenkriegsgeneration kennzeichnet, deren überkritische Haltung, Müdigkeit und Skepsis innerhalb der Gemeinschaft, trat der Obmann der sozialistischen Jugendinternationale, Nationalrat Strasser, heran. Diese Müdigkeit und Ablehnung — lautete sein bitteres Urteil — haben zur Folge, daß die heutige Jugend gesellschaftsfeindlich sei, sie wolle in ihrer Mehrheit nichts von staatlichen und politischen Einrichtungen wissen, sie sei am öffentlichen Leben desinteressiert. Als man in mehreren Wiener Gewerbeschulen mit einem Testexperiment dieser Erscheinung näherkommen wollte und Fragen zur schriftlichen Beantwortung vorlegte, habe auf die Stichworte nur ein geringer Teil der Schüler positiv geantwortet, der Großteil der jungen Menschen habe auf die vorgelegten Begriffe aus dem sozialen Leben ablehnend geantwortet: „Nix für uns“, „Schwindel“, „Schmäh“. Fast 50 Prozent fehlende Antworten bewiesen, daß der Großteil der Jugend den öffentlichen Einrichtungen überhaupt verständnislos gegenübersteht. Diese Stimmung der Jugend'wende sich nicht nur gegen die Politik, auch die Kulturfeindlichkeit und die mangelnde Gestaltungskraft seien Folgen der gleichen Einstellung.

In ihrem Gesamtverlauf zeigte die Enquete in der Verschiedenwertigkeit der Aussagen das häufige Schicksal ähnlicher Veranstaltungen. Stellenweise verlor die Debatte das Niveau. Einzelne Urteile wichen von der Sachlichkeit ab, fielen durch Oberflächlichkeit auf oder durch eine tendenziöse Einstellung, zum Beispiel, wenn ein Jugendarzt sich zu dem Vorwurf berufen fühlte, daß gerade ländliche Gegenden, in denen sexuell bedenkliche Zustände herrschen, „die frömmsten“ seien und es „widerlegt“ sei, daß „die Abkehr von der Religion die sexuelle Verwahrlosung mit sich bringe“. Im ganzen gesehen aber war es wertvoll, auch aus dem sozialistischen Aspekt Tatbestände bestätigt zu hören, deren Erkenntnis zu sehr wichtigen Entschlüssen gerade in bezug auf den Familienschutz und die grundsätzliche Gestaltung der W o h n u n gs p o 1 i t i k hinleiten sollten.

Ausgeschieden aus dem leidenschaftlichen Hin und Her des Parteienkampfes müßte sich hier ein gemeinsames freies Arbeitsfeld für die Lebenserfordernisse unseres Volkes darbieten.

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