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Das Recht auf Bildung

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Es'gehört zu den positiven Erscheinungen unserer Zeit, daß Bildung in den Blickpunkt des allgemeinen und öffentlichen Interesses gerückt ist. Bildungsfragen sind beliebte Diskussionsthemen, denn alles, was mit Bildung zusammenhängt, scheint von Grund auf im U mbruch begriffen zu sein, und jeder glaubt, aus eigener Erfahrung mitreden zu können. So erfreulich das große Interesse ist, so groß ist aber auch die Gefahr, daß die Diskussion unfruchtbar bleibt, daß bei vielen Diskussionsteilnehmern die Voraussetzungen fehlen, um Bildungsfragen sachgerecht und konstruktiv diskutieren zu können.

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Es'gehört zu den positiven Erscheinungen unserer Zeit, daß Bildung in den Blickpunkt des allgemeinen und öffentlichen Interesses gerückt ist. Bildungsfragen sind beliebte Diskussionsthemen, denn alles, was mit Bildung zusammenhängt, scheint von Grund auf im U mbruch begriffen zu sein, und jeder glaubt, aus eigener Erfahrung mitreden zu können. So erfreulich das große Interesse ist, so groß ist aber auch die Gefahr, daß die Diskussion unfruchtbar bleibt, daß bei vielen Diskussionsteilnehmern die Voraussetzungen fehlen, um Bildungsfragen sachgerecht und konstruktiv diskutieren zu können.

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Auf der inen Seite gibt es oft die vorgefaßte Meinung, daß das bisherige Bildungssystem — zumindest in Österreich — sich grundsätzlich bewährt habe und die Schwierigkeiten dadurch entstanden seien, daß man das bewährte System zuwenig konsequent angewendet, daß man versäumt habe, rechtzeitig die notwendigen Retuschen und äußerlichen Anpassungsmaßnahmen durchzuführen. Anderseits wird unter der berechtigten Devise „Demokratisierung der Bildung“ und mit der redlichen Absicht, die „gleiche Bildungschance für alle“ zu realisieren und die optimale „Ausschöpfung der Begabungsreserven“ zu ermöglichen, eine höhere Bildung für alle angestrebt, welche die Gefahr mit sich bringt, das bisherige Niveau der höheren Bildung zu senken und einen Leistungsverlust einzuleiten.

Unter Bildung kann man heute nicht mehr eine Summe von Wissen und Verhaltensweisen verstehen, die man sich einmal erwirbt, um sie auf Dauer zu besitzen. Bildung ist der lebenslange dynamische Prozeß eines ständigen Sich-Bildens, wobei die Schulen die erste Phase darstellen, die Einführung geben und die Erstausstattung vermitteln, die zur ständigen Weiterbildung befähigen und motivieren soll. Diese ständige Weiterbildung ist um so dringender und wird um so mehr Zeit und Anstrengung erfordern, je höher der Bildungsstand eines Menschen ist. Eine intensivere und höhere Bildung ist aber nicht allein eine entscheidende Privatsache, die das persönliche Lebensschicksal wesentlich bestimmt, Bildung ist heute zusätzlich einer der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren, besonders eines kleineren Landes, dessen Reichtum an Kapital, Naturschätzen und Rohstoffen begrenzt ist. Ohne intensivere Bildung einer größeren Zahl kann das für die friedliche Entwicklung unserer Gesellschaft und des Staates notwendige permanente Wirtschaftswachstum nicht erreicht werden. Der ungeheure Zuwachs an neuem Wissen muß der Wirtschaft nutzbar gemacht werden, wenn wir nicht zurückbleiben wollen, denn die wirtschaftliche Entwicklung hängt immer mehr vom Bildungspotential ab, das heißt: von der Zahl der qualifizierten Mitarbeiter, von denen die einen neues Wissen durch schöpferische Wissenschaftsund Forschungsarbeit bereitstellen, und andere, denen die Fähigkeit und fachliche Intelligenz gegeben ist, dieses neue Wissen erfolgreich in die Praxis umsetzen.

Um nur anzudeuten, wie groß der Umfang des Wissenszuwachses ist, sei erwähnt, daß jährlich in mehr als 30.000 Zeitschriften mehr als zwei Millionen wissenschaftliche Aufsätze publiziert werden und daß anderseits 50 Prozent der Produkte und Geräte, die heute vom Handel angeboten werden, vor zehn Jahren noch nicht bekannt waren. Bildung ist aber auch ein wesentlicher Faktor des öffentlichen Lebens. Vor allem ist für die Verlebendigung der Demokratie und für den zu ihrer Sicherung notwendigen Ausbau eine intensivere Bildung aller Bürger Voraussetzung. Nur einem Gebildeten ist es möglich, seine Entscheidungsfreiheit zu erhalten und die komplexen Zusammenhänge wenigstens in ihren Grundstrukturen zu erkennen. Aber auch für jedes Glied der Kirche wird es nur dann möglich sein, das neue Selbstverständnis der Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil mitzuvollziehen, wenn es sich, nach einer vertieften Grundbildung, einer ständigen Weiterbildung unterzieht.

Angesichts dieser zukunftsentscheidenden Bedeutung der Bildung, wobei der Erwachsenenbildung die gleiche Wichtigkeit zukommt wie der Schulbildung, wird die Berufswahl neu zu überdenken sein. Man wird erkennen, daß die Erfahrungen früher Generationen nur bedingt und kritisch als Orientierungshilfen und Richtlinien benützt werden können, daß aber Aussagen über die notwendige Ausrichtung nach der Zukunft nur allgemein, und nicht speziell für den einzelnen Menschen möglich sind. Die Berufswahl ist heute schwieriger geworden, und man wird vom Anfang an auch daran denken müssen, daß der junge Mensch vielleicht im Laufe seines Lebens ein oder das andere Mal gezwungen sein könnte, seinen Beruf zu wechseln. Auf jeden Fall sollten neben grundsätzlichen Erwägungen einige sich deutlich abhebende Entwicklungstendenzen unserer Zeit bei jeder Berufswahl ins Kalkül gezogen werden, um das Risiko nach Möglichkeit zu minimieren. Alle Berufe sind in höherem Maße als früher bildungsintensiv und wissenschaftsorientiert. Es ist daher besonders wichtig, durch fortgesetztes Lerntraining die Fähigkeit des Lernens den persönlichen Anlagen entsprechend zu entwickeln und zu steigern. Ebenso wichtig wird es sein, die in den Pflichtschulen vermittelte Vertrautheilt mit den Kulturtechniken durch ständige Übung zu erhalten und, soweit es möglich ist, sich zusätzlich die Techniken der wissenschaftlichen Arbeitsweise anzueignen.

Eine vertiefte und umfassende Grundausbildung verdient unbedingt den Vorzug vor einer zu möglichst frühem Geldverdienen drängenden Kurzausbildung. Für jeden Beruf wird in Zukunft die aktive Beherrschung einer Fremdsprache die Einsatzfähigkeit und die Erfolgschancen wesentlich heben.

Bei der Entscheidung über den Ausbildungsweg sollte beachtet werden, daß weder das für die Arbeitsfreude und die Erhaltung des Leistungswillens unbedingt notwendige Erfolgserlebnis dadurch verhindert wird, daß trotz eifrigster Bemühung Mißerfolge eintreten, noch, daß ohne besondere Anstrengungen Erfolge beinahe selbstverständlich erscheinen. Bei der Berufswahl sollte vor allem die optimale Aktivierung der vorhandenen Begabung ohne Rücksicht auf die momentane Konjunkturlage in einzelnen Berufssparten im Auge behalten werden.

Von Anfang an muß aber bedacht werden, daß die beste Ausbildung keinen Abschluß der Bildung bringen kann, sondern nur neue Motive für eine ständige Weiterbildung. Die Entscheidung für den Zehnjährigen, ob er eine höhere Schule besuchen soll, die ja meist eine Vorentscheidung für die Berufswahl darstellt, soll ruhig hinausgeschoben werden, wenn sich keine ausgeprägten Begabungshinweise zeigen. Wenn aber überdurchschnittliche Begabung erkennbar ist, wäre jedes Hinausschieben der Entscheidung ein Fehler, der die Begabungsentfaltung behindern und die Leistungsfähigkeit reduzieren könnte.

Ungelernte Hilfsarbeiter wird man in Zukunft in weit geringerer Zahl als bisher brauchen. Deshalb müßte eine Ausbildung über die Pflichtschule hinaus für jeden, der dazu physisch und geistig in der Lage ist, angestrebt werden. Allen Eltern sollte bewußt sein, daß sie kein Recht haben, für ihre Kinder einen Bildungsverzicht zu verlangen oder zu dulden, vor allem nicht unter dem fadenscheinigen Vorwand, „damit sich die Kinder mit dem Lernen nicht so plagen müssen“ oder „damit sie eher etwas verdienen und früher von ihrem Leben etwas haben!“

Jeder Mensch hat heute ein Recht auf Bildung, deshalb sind Staat und Gesellschaft verpflichtet, Vorsorge dafür zu treffen, daß jemand die seiner Begabung j entsprechende Bildungschanche geboten wird. Wem diese Bildungschance in der Jugend vorenthalten wurde, oder wer sie aus welchen Gründen immer nicht genützt hat, der soll als Erwachsener die Möglichkeit haben, das in der Jugend Versäumte nachzuholen. Dem Recht auf Bildung entspricht aber auch die Pflicht, die gebotene Chance zu nützen. Das gilt in gleicher Weise für das Vorschulalter, für alle Schulen und für die Erwachsenenbildung.

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