6739609-1966_36_05.jpg
Digital In Arbeit

Das verflixte neunte Jahr

Werbung
Werbung
Werbung

Die letzten Kassandrarufe über die Einführung des neunten Schuljahres und die Gestaltung der Polytechnischen Lehrgänge sind verhallt, die letzten Versuche einer Änderung des Schulgesetzwerkes, zumindest im Umfang eines Terminaufschubes der Schulzeitverlängerung, nun abge- wehrt. Mit nur einer Ausnahme wurden die erforderlichen Landesausfüh- runigsgesetze beschlossen und die konkreten Veranlassungen (der Standorte und Sprengelfestseitzungen, der Schulraum- und Lehrervorsorge) getroffen. Das Bundesministerium für Unterricht hat unter Berücksichtigung auch des Bundesgesetzes vom 14. Juli 1966 den Lehrgang des Polytechnischen Lehrganges am 20. Juli 1966 erlassen und die wichtigsten Vorschriften für die sonstige innere Schulgestaltung (wie Amtsschriften, Schüler- und Klassenbeschreibung, Schülerbeurteilung und Zeugniswesen) verlautbart. Das neunte Schuljahr und die Polytechnischen Lehrgänge sind in allen Einzelheiten vorbereitet, sie können — wie das Gesetz es befiehlt — mit Beginn des Schuljahres 1966/67 in Szene gesetzt werden.

Vor dem Schulgesetzwerk 1962 waren sich Pädagogen und Schulpolitiker über die Einführung eimfes neunten Pflichtschuljahres einig — uneinig jedoch darüber, wie es institutionalisiert werden sollte: als fünfte (Volks-) Schulstufe oder aber als fünfte Hauptschulklasse (neunte Schulstufe). Im großen schulpolitischen Kompromiß der Jahre 1961 und 1962 war ein Ausweg nur durch den Vorschlag des Bundesministers Dr. Drimmel auf differenzierte Erfüllung des neunten Pflichtschuljahres zu finden: durch den Besuch einer mittleren oder höheren Schule, durch den Weiterbesuch der Volks-, Haupt- oder Sonderschule oder durch Absolvierung einer neuen (einjährigen) Schulart, der Polytechnischen Lehrgänge.

Säkulare Angelegenheit

Schulzeitverlängerungen sind eben im wörtlichen Sinne säkulare Angelegenheiten (die letzte war 1869 erfolgt, 1883 teilweise durchlöchert, die vorletzte 1774 als zugleich erste allgemeine Regelung) und können in der Regel nicht mit der Zustimmung der Betroffenen rechnen (der Schüler selbst, ihrer Erziehungsberechtigten und der Wirtschaft). Auch bereitet ihre Durchführung stets außerordentliche Schwierigkeiten, denn die Schulraumbeschaffung hinkt erfahrungsgemäß ein bis eineinhalb Jahrzehnte hinter dem Bedarfsfall nach, und Lehrer kann man nicht — vor allem nicht in Zeiten der Hochkonjunktur — auf Vorrat ausbilden. Was vor wenig mehr als zehn Jahren, als es einen unbewältigten Überschuß an Lehrstellenbewerbern und an Lehrernachwuchs gab, die Lösung gewesen wäre, bereitet nun große Sorgen.

Man hat daher verschiedentlich vorgeschlagen, die Einführung des neunten Schuljahres etwas aufzuschieben — um zwei, drei Jahre, schlugen Wohlmeinende vor, überhaupt oder doch um ein Jahrzehnt und mehr, ließen sich die Gegner jeder Schulzeitverlängerung vernehmen. Ein unbefristeter Aufschub konnte zu einer Zeit, da immer mehr Länder nicht nur das neunte, sondern schon das zehnte Pflichtschuljahr einführten oder in Erwägung zogen, nicht in Betracht kommen und wurde unseres Wissens niemals ernstlich aufgegriffen. Ein Aufschub um einige Jahre hätte die Schwierigkeiten nicht verringert, sondern beträchtlich erhöht, ist doch die Lehrernachwuchslage 1966 und 1967 verhältnismäßig günstig (es werden die höchsten Abgangszahlen aus den Lehrer[innen]bildungsanstalten erreicht, die es bisher gab), während die Umstellung auf die neue Lehrerbildung (in den Pädagogischen Akademien) in den Jahren 1968 und insbesondere 1969 den staksten Rückgang im Lehrernachwuchs seit vielen Jahrzehnten bewirken wird. Auch die Schulraumvorsorge wäre von einer solchen Unterbrechung oder Verzögerung der Vorbereitungsarbeiten eher lähmend beeinflußt worden.

Entgegen immer wieder geäußerten Meinungen wurde die Einführung des neunten Schuljahres und die Einrichtung der Polytechnischen Lehrgänge seit dem Herbst 1962 systematisch vorbereitet. In der ganzen österreichischen Schulgeschichte sind wenig oder kaum Beispiele dieser Art zu finden, vielleicht gelingt Ähnliches nun auch bei den Pädagogischen Akademien. Wenn es Bereiche oder Abschnitte gibt, für die das nicht oder nichj; voll zutrifft, dann sind die Gründe dafür allgemein bekannt oder doch leicht feststellbar. Jedenfalls hat das Bundesministerium für Unterricht Anfang 1963 einen seither erfolgreich tätigen Ausschuß eingesetzt, hat Enqueten und zahlreiche Sonderberatungen durchgeführt, schon 1964 mit einem provisorischen Lehrplan Schulversuche eingeleitet, ab Sommer 1964 mit der Fortbildung der für die Polytechnischen Lehrgänge bestimmten Lehrer begonnen sowie den endgültigen Lehrplan und die erforderlichen besonderen Vorschriften rechtzeitig vorbereitet. Einzelne Verzögerungen erklären sich aus der teilweisen Lahmlegung der einschlägigen parlamentarischen Arbeit während vieler Monate im Schuljahr 1965/66.

Gründliche Vorbereitung

Vom neunten Schuljahr (erstmals mit Beginn des Schuljahres 1966/67) „betroffen“ wird der Schülereintrittsjahrgang 1958; das sind die Kinder der Geburtenjahrgänge 1952 und teilweise 1951, die für das Schuljahr 1958/59 schulpflichtig wurden. Es handelt sich um etwa 92.000 Schüler der Volks-, Haupt- und Sonderschulen sowie der allgemeinbildenden höheren Schulen (Unterstufe) und um wenige schulpflichtige Kinder im häuslichen Unterricht. Da man von keinem Jahr der allgemeinen Schulpflicht befreit werden kann — ausgenommen nur bei Bildungsunfähigkeit —, konnte auch die Befreiung vom neunten Pflichtschuljahr nicht gewährt werden. Alle derartigen Gesuche mußten abgelehnt werden. Die zum Besuch der Polytechnischen Lehrgänge verpflichteten Schüler können diesen nicht einmal durch häuslichen Unterricht ersetzen. Dagegen besteht bei Schülern des neunten Pflichtschuljahres in den Volksschulen oder im Polytechnischen Lehrgang die Möglichkeit der Beurlaubung vom Schulbesuch aus dem Grunde der Mithilfe in der Landwirtschaft (§ 10 des Schulpflichtgesetzes — insgesamt nicht mehr als sechs Wochen im Schuljahr).

Die zum Schulbesuch im neunten Schuljahr verpflichteten Schüler werden ihrer Schulpflicht entweder in mittleren oder in höheren Schulen genügen (mehr als ein Drittel) oder die Volks-, Haupt- oder Sonderschulen weiterbesuchen (etwas weniger als ein Drittel) oder in die Polytechnischen Lehrgänge eintre- ten (zirka ein Drittel). Durch Flugschriften und eine intensive Schulbahnberatung wurden die Erziehungsberechtigten in den letzten Monaten auf alle Möglichkeiten der Absolvierung des neunten Schuljahres aufmerksam gemacht und ihre Entscheidung durch pädagogische

Hinweise unterstützt. In der Presse hat eine starke Werbung für den Eintritt in höhere und vor allem mittlere Schulen eingesetzt, wobei der neue Polytechnische Lehrgang nicht gerade gut weggekommen ist. Es wird sich erst zeigen, welche Wirkungen diese massive Propaganda hat, sie lassen sich zur Zeit noch nicht abschätzen. Jedenfalls haben deshalb die wiederholten Erhebungen der Schulbehörden über die Streuung des Schulbesuches im neunten Pflichtschuljahr so unterschiedliche Ergebnisse gebracht, daß man erst mit tatsächlichem Schulbeginn verläßlich unterrichtet sein wird.

Die Polytechnischen Lehrgänge

Nach den derzeitigen Unterlagen werden etwa 30.000 bis 35.000 Schüler die Polytechnischen Lehrgänge besuchen. Die neue Schulart wird in etwa 600 Standorten errichtet und rund 1200 bis 1300 Klassen führen, wofür etwa 1800 Lehrer (als ganze Dienstpostem) erforderlich sind, dazu Religionslehrer und Arbeitslehrerinnen (zirka 100 ganze Dienstposten beziehungsweise zirka 200). Etwa zwei Drittel der Polytechnischen Lehrgänge werden in organisatorischer Verbindung mit einer Hauptschule, rund ein Fünftel mit einer Volksschule geführt, wenig mehr als ein Achtel als selbständige Schulen, kaum zehn in Verbindung mit einer Sonderschule oder einer Berufsschule. Die Standorte mit nur ein oder zwei Klassen werden zahlreicher als erwartet sein (über 50 Prozent), da einerseits der Eintritt in die Polytechnischen Lehrgänge geringer als nach den Ersterhebungen und anderseits die nun festgesetzten Sprengel kleiner als früher vorgesehen sein werden. Die empfehlenswerten Großsprengel verursachen in weniger dicht besiedelten oder schulisch gut aufgeschlossenen Gebieten eben doch größere Fahrzeiten und Fahrkosten, und dafür ist verkehrsmäßig und hinsichtlich der Tragung der Fahrtkosten vielfach noch nicht hinreichend vorgesorgt (siehe dagegen das Landesausführungsgesetz Tirol, nach dem die Fahrtkosten Land und Gemeinden je zur Hälfte tragen). Was die wenigen Schüler anlangt, die wegen unzumutbaren Schulwegen die Polytechnischen Lehrgänge nicht besuchen können, werden internatsmäßige Betreuung und Schulversuche erwogen.

Für die innere Gestaltung der neuen Schulart ist vor allem der Lehrplan maßgebend. Er konnte wegen der Novellierung des Schulorganisationsgesetzes erst am 20. Juli 1966 erlassen werden, lag jedoch seit Wochen kundmachungsreif vor. Der Entwurf dieses Lehrplanes hatte im Frühjahr 1966 verschiedentlich die Gemüter und die Presse beunruhigt, freilich fast ausschließlich wegen der Stundentafel und der Bemerkungen hierzu. Die Endfassung konnte, sofern nicht Änderungen des Schulgesetzwerkes 1962 notwendig waren, zahlreiche Wünsche berücksichtigen, darunter insbesondere die Erhöhung der wöchentlichen Gesamtstunden- anzahl der Pflichtigegenstände auf 33 und des Wochenstundenausmaßes von peutsch und Mathematik auf je sechs. Die Einschränkung des berufs- kundlichen Unterrichts auf Schüler, die noch nicht berufsentschieden sind, hat das Bundesgesetz vom 14. Juli 1966 beseitigt, und damit sind pädagogische Schwierigkeiten (Ersatzunterricht) und bestimmte Mehrkosten weggefallen.

Das neunte Schuljahr und die Polytechnischen Lehrgänge sind im Zusammenwirken aller dafür Verantwortlichen vorbereitet und können und müssen mit Beginn des Schuljahres 1966/67 realisiert werden. Selbstverständlich werden dabei alle Schwierigkeiten auftreten, die bei Schulzeitverlängerungen und bei der Einrichtung neuer Schularten stets üblich waren, wobei die besonders schwierige Situation im Bereich des Schulraumes und des Lehreinsatzes (Ansteigen der Schülerzahlen, Änderung der Typenproportion in Richtung höherer Schulen und Hauptschulen, Senkung der Klassenschülerhöchstzahl, Herabsetzung der Lehrverpflichtung u. a.) erschwerend hinzukommt. Es ist jedoch zu erwarten, daß diese Schwierigkeiten rascher und gründlicher bewältigt werden können, als dies in ähnlicher Lage zu früheren Zeiten möglich war und gelang.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung