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Das verlorene Buch

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Die verantwortlichen Kreise mußten in den letzten Jahrzehnten feststellen, daß das Buch den jungen Menschen immer fremder wird. Selten nur noch greift der heranreifende Bub neben dem Schulbuch nach einem guten Jugendbuch, und diese Fremdheit wächst mit dem Menschen heran; neben den Fachbüchern wird kaum noch ein gutes Buch gelesen. Dazu kommt aber seit 1945 noch die Flut der Schmutz- und Schundhefte, die einzige Lektüre, die vielen interessant genug erscheint, um damit die Zeit totzuschlagen.

Verständnisvoll ging der Unterrichtsminister auf die Anregung ein, eine Sek-t'on ins Leben zu rufen, die sich mit der Frage „Jugend und Buch“ besonders auseinandersetzt, und es wurde die Jugendschriftenkommission geschaffen, die neben dem negativen Kampf gegen Schmutz und Schund durch Verbote besonders die Arbe't für das gute Buch fördert. Darüber hinaus versucht man durch Buchausstellungen, Herausgabe von Bücherlisten, Buchberatungen, Radiovorträgen, Referaten in Jugendorganisationen und Schulen mit Hilfe der Landesjugend-und Volksbildungsreferate, aber auch der Führer der Jugendorganisationen eine möglichst breite Basis zu gewinnen und der Jugend und der Elternschaft das Lesenswerte und Bleibende zu empfehlen. Die Bücherkisten der Jugendschriftenkommission und des Jugend-Rot-Kreuzes für Schulen und Vereine, denen keine Bibliotheken zur Verfügung stehen, die Arbeit des „österreichischen Buchklubs der Jugend“ unterstützten diese Bemühungen.

Doch der Erfolg blieb gering. So versuchte man durch eine Umfrage unter der Jugend, sich über die Gründe des Versagens klar zu werden. Es wurde die Frage gestellt, welche Weihnachtsgeschenke die Jugendlichen 1950 erhalten hatten. Die Antworten führen nur Alter, Schule, Milieu und Geschenke an. Ausgewertet werden die Ergebnisse nach zwei Gesichtspunkten: der prozentuelle Anteil des Buches an den Weihnachtsgeschenken überhaupt und der der Altersstufe entsprechenden guten Bücher mit Berücksichtigung der Berufe und Stände der Eltern.

Aus der Zahl der Arbeiten, die nun In den nächsten Monaten ausgewertet werden, wurde die Mittelschule einer Landeshauptstadt ausgewählt, deren soziale Schichtung der Familien der Schüler ungefähr folgendes Bild ergibt:

öffentliche Angestellte . . . 4 . 26,1%

Privatangestellte ........ 22,2%

Arbeiter...... . . 5 10,0%

Frauen im Haushalt . . . . . . s 9,1%

Private Unternehmer ..... 7,3%

Ingenieure und Techniker .... 5,8%

Akademiker im freien Beruf ...... 5,8%

Kaufleute.........a 5,0%

Pensionisten und Rentner . . . 3,3%

Handwerker........ 2,5%

Landwirte........ 2,3%

Stellenlose i . . 0,6%

In rascher Arbeit konnte bisher folgendes festgestellt werden:

Von der Gesamtzahl der Geschenke in Prozenten:

1 1a 8 1

2 8 - 3 = S Bt& S 3s

10jährige 38,41 21,2 41,8 22,0 15,0

14jährige 44,44 37,0 39,65 12,65 10,7

16jährige 60,0 28,2 56,1 6,5 9,2

18jähr:ge 41,66 28,0 54,0 0,0 18,0

Vielleicht interessiert zum Vergleich auch anschließende kleine Statistik:

Keine Bücher erhielten:

Hauptschjle Lehrerinnenbildungs-Volksschule c,ajf Notstands- anstatt

sta gebiet 1. Jahrg. 4. Jahrg.

84,7% 75,6% 89,0% 19,3% 41,4%

Das Ansteigen des prozentuellen Anteils an Buchgeschenken in der obersten Klasse der Mittelschule ist teilweise auf Büchergeschenke zurückzuführen, die der junge Mensch für die Schule dringend braucht, und auf „Großgeschenke“ von Verwandten, zum Beispiel 30 Bände Schiller oder Goethe, antiquarisch. Sonst ergibt die Durchsicht der Arbeiten e i n sehr wenig befriedigendes Bild. Den Hauptteil an Büchern stellt Karl May (auch bei Mädchen) und selbst 15jährige erhalten Bücher, die keineswegs eine empfehlenswerte Lektüre für so junge Menschen sind, wie zum Beispiel die Werke der Gräfin Salburg und ähnliche.

Die Zettelarbeiten geben aber auch Einblick in recht traurige Verhältnisse. In einer Familie erhält ein Bub sehr wertvolle Geschenke (19 Einzelstücke), aber einen Christbaum zu schmücken, war keine Zeit; nicht ein Buch ist unter'den 19 Geschenken. Ein anderer, als der Älteste der Kinderschar seiner Eltern (4. Klasse), verzichtet auf jedes Geschenk, damit die Eltern wenigstens den jüngeren Geschwistern eine kleine Weihnachtsfreude machen konnten. Ein anderer erhält 100 Sch'lling Taschengeld für die Feiertage (Kino und Theater), wieder ein anderer (4. Klasse) Rauchwaren und ein Paket Streichhölzer. Das Kind eines Landesbeamten (12jährig) berichtet freudig von der Erfüllung eine? langgehegten Wunsches: es hat ein Bett bekommen!

Die Gründe, daß das gute Buch ein solches Aschenbrödeldasein in unserem Volke führt, sind natürlich verschiedener Art und auch örtlich verschieden.

Das gesprochene Wort (Radio), der Lärm, verdrängt das Buch und erschütternd ist die Erkenntnis, die man aus Schüleraufsätzen „Mein Sonntag“ gewinnt: Fußballwettspiel und Film nehmen einen Großteil der Freizeit weg. Bei der Gelegenheit kommt man auch auf die letzte Ursache des gestörten Familienlebens, eine oft diskutierte Zeiterscheinung: die engen Wohnverhältnisse, die aus materiellen Gründen schwierigen Heizverhältnisse und das Absinken der Wohnkultur zum Familienleben in der Küche treiben die Väter und heranwachsenden Jugendlichen auf die Straße und in die Vergnügungslokale.

Aus den Berichten ist aber auch zu ersehen, daß bei vielen Eltern jegliche Verständnis für das gute Buch fehlt. Die Hast der Zeit läßt die Eltern selbst nicht mehr zum Lesen kommen, und neben der Tageszeitung greift man nur noch zum Magazin, oft eine Gefahr für die Kinder des Hauses, die von vielen Eltern gar nicht erkannt wird.

Ein anderer Punkt wird durch den Wunsch des Kindes, zu Weihnachten ein Schulbuch zu bekommen, berührt. Die Schulbücher sind so teuer, so daß viele Eltern kaum mehr in der Lage sind, alle dem Kinde zu kaufen. Für einen Zehnjährigen kommen die bis jetzt erschienenen Schulbücher auf 138,40 Schilling.

Zusammenfassend wäre also zu sagen: Das Einkommen der interessierten Kreise ist für Bücherkäuf zu gering. Die wenigen aber, die das Geld hätten, scheinen durch die Äußerlichkeiten von dem stillen Mahner zur Innerlichkeit abgezogen. Was ist da zu tun? Haben wir wirklich alles getan, was wir tun konnten?

Wir haben das Jugendschutzgesetz, das aber nur dann erfolgreich angewendet werden kann, wenn nicht nur die beamteten Stellen, sondern auch die Eltern und Erzieher die gegebenen Handhaben zur Eindämmung des Schundes nützen.

Darüber hinaus muß aber viel mehr als bisher für das gute Jugendbuch geworben werden. Uber jede parteiliche Kluft hinweg müssen die zuständigen Stellen die Arbeit für den Jugendbuchklub unterstützen. Es wäre nötig, daß, wie vom Jugendbuchklub in Wien, in allen Städten mit Hilfe der Kulturreferate der Länder und der Gemeinden Lesestuben für Jugendliche geschaffen werden, als Idealziel wäre jedoch eine Lesestube in jeder Schule ins Auge zu fassen, wenn es in einigen Jahren die Raumverhältnisse in den Schulen erlauben. Um aber auch bei den Eltern das Verständnis für das gute Jugendbuch zu wecken, müßte außer in Elternversammlungen und Radiovorträgen durch die Presse geworben werden. Ein Notruf aber ergeht an die Dichter und Schriftsteller unserer Zeit, die sich nicht zu gut dünken mögen, für die Jugend zu schreiben. Ein gutes Jugendbuch muß ja gar nicht „kindlich“ geschrieben sein, das wollen die Kinder nicht, es müssen nur auch die ernstesten und heikelsten Probleme in einer solchen Form behandelt werden, daß man die Bücher ruhig jedem jungen Menschen in die Hand geben kann.

Mit Bernanos müssen wir jedoch am Schluß unserer Überlegungen eingestehen: Der gegenwärtige Zustand auf diesem Gebiet ist eine Schande für uns.“ Eine Schande für uns alle. Wir alle sind schuld, und klagen allein nützt nichts. Wir alle sind verpflichtet, dem Mangel abzuhelfen.

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