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Digital In Arbeit

Debatte um unseren gewerblichen Nachwuchs

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In Wirts'diaftskretsen steht heute die Frage zur Erörterung, ob die künftige gewerbliche Berufsschulung den Lehrling oder den „Anlernling“ bevorzugen soll. Ziel des Anlernverhältnisses ist die Heranbildung des Anzulernenden zu einem Spezialarbeiter, also nicht zu einem Facharbeiter, Fabriksoder Handwerksmeister. Das Anlernverhältnis stammt aus Amerika und wurde durch den Nationalsozialismus, der weniger auf fachgemäße Schulung als auf rasche Bereitstellung von „Einsatzkräften“ für seine Rüstungsbetriebe Wert legte, in Deutschland gefördert. „Lehrling“ und „Anlernling“ unterscheiden sich also durch den Zweck, durch die Dauer, die beim Anlernverhältnis meist nur einige Monate umfaßt und nicht durch Gesetz vorher festgesetzt ist, und auch durch die Bezahlung; denn der Anlernling erhält, im Unterschied zum Lehrling, häufig schon tarifmäßigen Arbeiterlohn. Während der Eintritt in die Lehre meist mit Schulaustritt erfolgt, entstammen die Anlernlinge oft höheren Altersstufen. Wir unterscheiden daher hier nuch tarifrechtlich zwischen Jugendlichen und älteren Menschen. Der angelernte Arbeiter kann einzelne Gruppen von Hand- und Maschinenarbeiten ausführen, der gelernte oder Facharbeiter wird dagegen planmäßig in einem größeren, abgeschlossenen Arbeitsgebiet ausgebildet. Die Frage, welcher Gruppe die Zukunft gehört und ob die Lehre vielleicht vollständig durch die Anlehre verdrängt werden wird, hängt größtenteils davon ab, ob künftig das Handwerk oder die Fabrik die Wirtschaft beherrschen wird. Die mit Kriegsende begonnene große Berufsumschichtung auf 4er einen Seite, der Bedarf an rasch verfügbaren Baukräften auf der anderen Seite ließ gegenwärtig die Zahl der Anlernlinge gewaltig steigen.

Unsere Frage rollt noch ein anderes Problem auf und kann vielleicht nur von diesem weiteren Gesichtspunkte aus richtig behandelt werden: denn Anlernlinge gab es, wenn sie auch nicht so hießen, in den letzten Jahren auch bei den geistigen Berufen. Man

denke an die Feldscherer, Schul- und Rechtshelfer und verschiedene technische Kanzleikräfte. Bei all diesen liegt der Mangel darin, daß sie nur einen kleinen Gesichtskreis besitzen. Mochten sie auch das ihnen zugewiesene Arbeitsgebiet beherrschen, so versagten sie trotz des Drills in Verwaltungsakademien, DAF- und Sanitätskursen, wenn es sich um größere Zusammenhänge handelt. Ja, die Arbeit auf dem eigenen Gebiete ging oft nicht in die Tiefe, weil der Weitblick fehlt, den nur das abgeschlossene höhere Studium oder eine jahrelange Praxis, wie sie zum Beispiel bei den österreichischen „Fachbeamten mit erweitertem Wirkungskreis“ gefordert wird, verleiht. (Es wäre daher verfehlt, diese ausgezeichneten und bewährten Fachkräfte mit den „Anlernlingen“ in einen Topf zu werfen.)

Beim Spezialarbeiter gewahren wir ähnliches wie bei geistigen Anlernlingen. Früher warf er sich erst dann auf ein bestimmtes Teilfach, wenn er einen Beruf, zum Beispiel den des Schlossers, vollständig erlernt hatte. Heute ist häufig diese Voraussetzung gefallen. Die Folge sind dann Spezialarbeiter, die — selbst auf ihrem engen Arbeitsgebiete — nur die gewöhnlichsten Handgriffe verstehen, bei größeren Aufgaben versagen, und bei Wirtschaftskrisen mangels entsprechender Regsamkeit und Wendigkeit stark der Arbeitslosigkeit anheimfallen. Eine geregelte vollständige Lehrlingsausbildung vermeidet diese Gefahren und schafft größere Arbeitsfreude. Freilich muß der Lehrherr seine Aufgabe ernst nehmen und ihr gewachsen sein. Da in letzter Zeit Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände, Arbeiter- wie Handelskammern hier erfreuliche Übereinstimmung und Überwachungsbereitschaft bekunden, darf erwartet werden, daß die oft gerügten übelstände der Lehrlingsausbildung allmählich verschwinden. Gerade die Lehrlingsausbildung hat leider auch das Aufkommen der bloßen Anlernverhältnisse mitverschuldet. Ganz überholt ist übrigens der oft bekrittelte „Patri-

archalismus“ und die meisterliche Hausgemeinschaft nicht. Nur müssen Lehrherr wie Lehrling die ihnen erwachsenden Pflichten getreu erfüllen. In letzter Zeit Haben - zum Beispiel Land meister oft bessere Erziehungserfolge verzeichnet als ihre städtischen Zunftgenossen, die dem Lehrling keine Häuslichkeit bieten können.

Dem oft geäußerten Wunsche, jungen Menschen möglichst bald zu einem Verdienste zu verhelfen, kommt auch der Vorschlag entgegen, die Lehrzeit bei gewissen einfachen Gewerben herabzusetzen, wodurdi jedoch selbstverständlich die Gründlichkeit der Ausbildung nicht leiden darf.

Was wir vom gewerblichen Lehrling verlangen, gilt für die höheren Berufe im gleichen Maße. Auch hier müssen die Mittel-und Hochschulen Höchstleistungen erzielen. Der Titel Med. Universalis, eines Dr. der Rechte, eines Dr. der technischen Wissenschaften gebührt nur dem, der wirklich umfassende Kenntnisse in seiner Wissenschaft nachweist. Die Einhaltung dieses Grundsatzes verhindert auch den Überbelag der höheren Schulen und trägt zum Ausmerzen jener Elemente bei, die jetzt nur deshalb „studieren“, um auf Schleichwegen einen Beschäftigungsnachweis und damit das Anrecht auf Lebensmittelkarten zu erhalten.

Anlernlinge sind nicht ungelernt, nicht ausgelernt, also an sich unbefriedigende Zwittererscheinungen. Wir verkennen jedoch ihre Notwendigkeit nicht und möchten ihnen auch die Wege zur Weiterbildung und damit zu befriedigender Aufrückung in eine höhere Berufsstufe erschließen. Von Dilettanten unterscheiden sie sich schon dadurch, daß sie ihre Tätigkeit als Lebensberuf auffassen; durch fachliche und gesinnungsmäßige Ausbildung müssen jedoch die Gefahren verhindert werden, die der Dilettantismus für den einzelnen und die Gesamtheit birgt. Man braucht nicht überall vollgeschulte Kräfte, das besagt aber nicht, daß man sie überhaupt nicht braucht; ebensowenig können wir für gewisse Posten die Angelernten entbehren, ja, deren Verwendung wird in den nächsten Jahren steigen. Da hier die persönlichen Interessen des Einzelmenschen wie der Gesamtwirtschaft hereinspielen, wird sich auch der Gesetzgeber mit dieser Frage eingehend befassen müssen, und zwar nicht nur im Rahmen der Wirtschaftslenkung, sondern auch in der Fürsorge für Kriegsversehrte und Heimkehrer; denn gerade diese Gruppen stellen jetzt zahlreiche Anlernlinge. Und wenn daneben auch geschickte, erprobte Hilfsarbeiter durch eine Anlernzeit ihre Leistungsfähigkeit und damit ihr Fortkommen verbessern, so ist dies zu begrüßen.

Auf geistigem wie wirtschaftlichem Gebiete muß Österreich heute viel mit Improvisationen arbeiten. Dies ist uns auch zum guten Teil gelungen. Wohlausgebildete Lehrlinge wie Anlernlinge können uns auf diesem Wege solange weiterhelfen, bis unser Leben wieder in geregelten Bahnen läuft.

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