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Demokratie ist mehr als Wahlen

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So kritisch und aufmüpfig, daß sie gegen totalitäre Regime gefeit wäre, scheint Österreichs Jugend leider nicht zu sein.

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So kritisch und aufmüpfig, daß sie gegen totalitäre Regime gefeit wäre, scheint Österreichs Jugend leider nicht zu sein.

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Wir erinnern uns 1995 an die Befreiung von Auschwitz, an das Ende des Zweiten Weltkrieges und an den Beginn der Zweiten Bepublik vor fünfzig Jahren. Einige Tabus beginnen sich aufzulösen: die österreichischen Opfer haben wir zur Kenntnis genommen, etwas schwieriger scheint es mit den österreichischen Tätern zu sein. Woher sonst sollte es kommen, daß die Mehrheit österreichischer Jugendlicher die Ansicht vertritt, die NS-Verbrechen wären nur von Deutschen beziehungsweise nur von NichtÖsterreichern begangen worden?

Ein Tabu allerdings ist nach wie vor unter Verschluß: die Auseinandersetzung mit der großen Mehrheit der Bevölkerung, den sogenannten „Mitläufern”. Es war aber - wie in jedem Begierungssystem - dieser große Teil der Bevölkerung, der die NS-Diktatur - freiwillig oder unfreiwillig, gewollt oder ungewollt, bewußt oder unbewußt - mitgetragen hat: in der Einhaltung von Gesetzen und Vorschriften in der Verwaltung, in den Schulen, in den Kindergärten und so weiter. Fest steht jedenfalls, daß der NS-Alltag, der sich doch vom Alltag davor und danach unterschieden haben muß, kein Thema war (und ist).

Das lag aber keineswegs nur im Interesse der NS-Generation selbst. Das Wissen um die „Normalität” des NS-Alltags hätte ja bedeutet -und bedeutet es immer noch —, auch die heutige „Normalität” zu hinterfragen: zum Beispiel die persönliche (Un)Fähigkeit zum Widerspruch in weit weniger schwierigen Situationen.

Dazu kommt, daß die österreichische Gesellschaft einem gravierenden Irrtum aufgesessen ist: hierzulande herrscht nämlich die Meinung vor, es genüge, gegen Faschismus, Nationalsozialismus und jegliche Diktatur zu sein, damit wäre man schon automatisch demokratisch. Typisch für Mitläufer ist, daß sie nichts tun, nichts sehen und nichts hören (wollen), sich heraushalten, nicht Stellung beziehen, oder ihre Meinung so lange kaschieren, bis sie von vielen vertreten wird. Nach dem Motto: wer nichts tut, kann nichts falsch machen, bleibt also „unschuldig”. Doch schon Voltaire hat gesagt: „Wir sind nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun.”

Im Grunde hat sich an der Mitläufer-Haltung des größten Teiles der Bevölkerung wenig geändert. Das aber hängt mit einem weiteren gravierenden Irrtum zusammen: daß sich Demokratie im Bestehen eines Parlaments, der Festschreibung von Gesetzen und in Pressefreiheit und die Beteiligung der Bevölkerung in freien Wahlen erschöpft. Daß sich Demokratie wesentlich im Alltag, in der politischen Kultur und in der offenen Diskussion über Weltanschauungen und Grundwerten niederschlägt, scheint sich noch nicht herumgesprochen zu haben (oder ist nach wie vor durch die schlechten Erfahrungen im „Ständestaat” und in der NS-Zeit tabuisiert).

Im Gegenteil: Schon von Werten zu sprechen, gilt heute als fragwürdig, weil von vornherein als übermäßig konservativ bis reaktionär. Begriffe wie Loyalität, Verantwortung, Leistung, Disziplin, Pflicht, Heimat, Kameradschaft oder Autorität - um nur einige zu nennen -lösen bei allen, die als fortschrittlich gelten, aber auch bei vielen Jugendlichen, negative Assoziationen aus. Ihr Stellenwert auch für die Demokratie wird nicht zur Kenntnis genommen, weil sie vor allem durch den Nationalsozialismus stark in Mißkredit geraten sind. Kein Wunder, daß viele Jugendliche aufgrund mangelnder Wertvorstellungen desorientiert sind, ganz abgesehen davon, daß es vor allem desorientierte Jugendliche sind, die in rechtsextremen Gruppierungen eine Heimat finden.

Zwar behaupten neuere Untersuchungen, die heutige Jugend wäre nicht mehr autoritätshörig, sondern aufmüpfig, tatsächlich trifft das bestenfalls für die Jahre in der Schule zu. Schon an der Universität und spätestens am Arbeitsplatz wird deutlich, daß sie durch eine Mitläufer-Sozialisation geprägt wurden. Wie soll es auch anders sein?

Im allgemeinen stellen sich Eltern auf die Seite vermeintlicher Autoritäten, und sei es nur, um ihren Kindern und sich selbst Unannehmlichkeiten zu ersparen. Wodurch vermittelt wird, daß man „gegen die da oben sowieso keine Chance hat”. Und in Auseinandersetzungen unter Schul- und Arbeitskollegen herrscht die Tendenz vor, Jugendlichen anzuraten, sich aus allem herauszuhalten. Sie sollen nicht mit-tun, sich aber auch nicht einmischen oder gar auf die Seite Angegriffener oder Außenseiter stellen.

Für Mitläufer bedeutet Unterlassung, „sauber” und unangreifbar zu bleiben. Wie sollen da Heranwachsende demokratisches Verhalten lernen und das Wesen der Demokratie, die ohne Stellungnahme und Einmischung nicht möglich ist, begreifen?

Literaturhinweis:

Die Mitläufer Oder die Unfähigkeit zu fragen. Auswirkungen des Nationalsozialismus für die Demokratie von heute. Von Nadine Hauer. Leske+Bu-drich, 1994.

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